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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 15 (1. Maiheft 1912)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0212
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der Aufführurig ruit seiner Persou
nicht vor dieses Stück zu treten.
Er hat damit stillschweigend auf
die Buchausgabe (Berlin, S. Fi-
scher) als auf das eigentliche und
wahre Dokument seiner dichterischen
Absichten gewiesen, als fühle er,
dajz ihm jene Aufführung mehr
Feind als Bruder war.

Doch was ist Feind und was
ist Bruder? Zwischen beiden Be-
griffen sucht das kleine unschuld-
volle „und" des Titels eine Brücke
zu schlagen, die alle Gcgensätzlich-
keit auslöscht und beider Fremd-
heit in nachbarliche Vertrautheit
wandelt. Dcin Feind ist dein Bru-
der, und dein Brnder ist dein
Feind. Auf den Hof der Familie
Badoer, dic sich — Mutter, Sohn
und Tochter eng aneinander ge-
schmiegt — nach dem Tode des
von Vcnedig rücksichtslos ausge-
beuteten Generals, des Familien-
hauptes, in grollender Untätigkeit
von Geselligkeit und Staatsleben
grundsätzlich fernhält, reitet als
AbgesmGter der Rcpublik eisen-
gepanzcrt Graf Barbaro da
Brazza, und als er wicder sattelt,
nimmt er den Sohn für den Dienst
auf dcn Staatsschiffen, dic Tochtcr
als Ehegemahl mit sich. War er
der Feind? Die Badoers, zumal
die auf ihr schraukenloses Frei-
heits- und Einsamkcitsgefühl stolze
Muttcr, glauben es zunächst. Hei-
mann aber sieht in ihm eher den
Bruder und Wohltätcr; dcnn scin
brutaler Nuf iu die Welt ist es,
der die Badoers aus ihrer weich-
licheu Selbstverlicbthcit aufrüttelt,
der ihre faule Ruhe, die nahe
daran war, zwischen Bruder und
Schwester das Gift der Inzucht
auszubrüteu, zu leidenschaftlicher
Bewegung aufrüttelt.

Doch das Schiff, des hohen
Meeres allzulangc entwöhnt, zeigt
sich dem Sturm und Wcttcr nicht

mehr gewachsen. Stefan, der Sohu,
vergeudet seine unerprobten Kräfte
in nutzlosen Seefahrten, und wenn
er heimkehrt, gibt er Beute und
Ehre den gefallsüchtigen Launeu
einer Dirne preis, von der er
nicht mal den Namen weitz. Pal-
las, die Tochter, krankt anch in den
Armen ihres Mannes, der nicht
ihre Gefühle, nur ihre hilflose
Angst und Nacktheit liebt, weiter an
der schwülen Sehnsucht nach dem
Vruder und verfällt auf den ersten
Blick rettungslos einem ihm ähn-
lichen, ganz in Musik aufge-
lösten, weichlich-schwärmerischen
Knaben, der — was sie nicht
weiß — ihr Halbbruder, der un-
eheliche Sohn ihres Baters ist.
Mit ihm entflieht sie aus ihres
Mannes Gewalt, mit ihm leidet
und darbt sie, seinetwegen lügt
und mordet sie, um ihm die ent-
setzliche Wahrhcit zu verbergen,
wie auch Stefan schon seinetwillen
in den Fluten geendet hat, als
er Ieuge ihrer verbrecherischen
Flucht wurde. Endlich, als das
furchtbare Geheimnis ihrer Blut-
schande dem ahnungslosen Knaben
nicht mehr verschwiegen bleiben
kann, räumt sie mit ihm auch sich
sclber hinweg — von der Familie
Badoer steht als letzte einsame
SLule nur noch die kinderlose
Mutter im Witwenschleier, die
eben crst von neuem der Gehor-
sam und Unterwerfung forderndcn
Signoria ihre unerschütterte
Glückskraft und ihr mutigcs Ge-
genwartsgefühl ins cherne Antlitz
geschleudert hat. Doch war dieser
Tuzio Tuzi, dieser leibliche Vruder
dcr beiden unglücklichen Opfer,
nun wirklich der Bruder? Die
uachgelasscnen Papierc des Gene-
rals belegen es, und Pallas fühlt
es sich auch ohne die cisig-tödliche
Rachcbotschaft ihres Gcmahls durch
tausend Stimmen des Vlutes be-

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