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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 18 (2. Juniheft 1912)
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Rath, Willy: Strindberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0422
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entschiedener in seinen Werdensgefühlen als in dem Werden selbst. „Der
Sohn einer Magd" heißt der erste und, von der mittelbaren Selbstdar-
stellung im „Roten Zimmer" abgesehen, auch zuerst (s886) erschienene Teil
seiner Lebensgeschichte. So sehr beherrschte ihn das trutzig-peinliche Be-
wußtsein, mütterlicherseits der „Unterklasse" zu entstammen. Aberblicken
wir diese an Ehrlichkeit nicht zu überbietende Iugendgeschichte und die
übrigen Werke, so finden wir in Wirklichkeit nirgends Züge niedriger Ab-
stammung. Ein paar sorgfältig verzeichnete Anwandlungen jugendlichen
Respekts vor dem Auftreten der Höhergestellten sind im Grund nur äußer-
liche Anzeichen mangelnder Verkehrsgewöhnung, keineswegs Beweise min-
der edlen Blutes. Höchstens könnte die elementare Leidenschaftlichkeit
seines Fühlens und Denkens, der Fanatismus seines Suchertums auf
dic Abstammung aus urwüchsigem Volkstum zurückgeführt werdeu. Allein
das Geniehafte dieser Leidenschaft, die Geistigkeit dieses Fanatismus spotten
jedcr zoologischen Erklärung.

Unendlich stärker als irgendwelche Möglichkeiten von Knechtssinn oder
laulich bürgerlichem Wcsen drängt sich uns vielmehr überall aus Strind-
bergs Lebenswerk eine Weltanschauung — mehr: einc seelische Grund-
anlage auf, die ihm selbst wohl nur in einer seiner Lebensepochen voll-
kommen klar bewußt war: echter Adel. Der modernen Phrase vom
Adclsmenschen war in Strindbergs Natur eine Erfüllung vorangegangcn.
Eine der Erfüllungen; denn in jedem Zeitalter gab und gibt es Adels-
menschen, harmonische und disharmonische. In der Sffentlichkeit unsrer
Tage sind sie rar. Keinen echtbürtigeren, keinen stärkeren sahen wir da
als den Zweifler und Selbstbezweifler August Striudberg.

Im Kleinstcn wie im Größteu offenbarte sich das. Er konnte den Luxus
und viel Notwendiges entbehren, nicht aber die Reinlichkeit an sich, um
sich und in sich. Nicht bloß Gemeinheit, schon Gewöhnlichkeit äußerer und
innerer Art peinigtc ihn. Ebcn seine Aberempfindlichkeit verrät den
Aristokratcn. Man muß an die Prinzessin auf der Erbse denken, wenn
man sich die ganze Feinfühligkeit dieses Charakters vergegenwärtigt, dcr
einem so männlichen Mann gehörte. Unbeugsamcr Mut, unbeirrbarcr
Wahrheitsinn, unermüdlicher Höhendrang sind die Grundeigenschaften, die
dsn wahren Adclsmenschen ausmachen. In Strindberg konzentrierten
sie sich zum unermüdlich-mutigsten Erkenner- und Bckeunertum. Aller
Mißwachs in seinem Künstlertum, aber auch alles Tiefste und Feurigste
seines Dichtens, die schlimmsten Nöte seiner Iugend und die geistigen
Wirren seines Alterns, aber auch die tragische Titanengröße seines gc-
samtcn Seins wurzeln vorzüglich in dicsem angeborenen Kricgeradcl seincr
Seele.

Untcr dcn Dichtern unsrer Zeit war er nach Lolstois Ende der einzigc,
dem der Gattungname Genie zukam. War es, weil cr gar nicht in erster
Linic Dichtkünstler sein wollte oder konntc, sondcrn in rückhaltloser
Hingabe seines ganzen Ichs durch Erleben, Forschen und Gestalten über-
reich« Geistcsschätze aufhäufte und zugleich das Kunstwerk eines höchst-
gesteigerten Menschtums, eines glücklosen und doch oder eben darum para-
digmatischen Höhenmcnschcn schuf. Von seinen Schriften wird manches,
sogar vieles untergehcn, weil es nicht genugsam aus ihm herausgestcllt
wurde, um die reinste, in sich geschlossene Form zu erreichen, die den Bc-
stand eines Dichtwerkes,übcr viele Menschenalter hinaus verbürgt; oder

2. Iuniheft (9l2 353
 
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