Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1912)
DOI Artikel:
Nidden, Ezard: Daheim und draußen: durchaus subjektive Betrachtungen über die Reisekunst eines Kulturarbeiters
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0015
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


Iahrg.25 Erstes Iullheft 1912 Hest I9


Daheim und draußen

DurchaussubjektiveBetrachtungenüber dieNeisekunstjeinesKulturarbeiters

ehe ich in meiner Stadt durch die Straßen, so erinnern nnch die
F V^Titel der Bücher in den Läden an Rezensionen, die ich am Abend
^^zu schreiben haben werde, der Anblick einer Druckerei bringt
Ablieserungtermine sür Manuskripte in unliebsame Lrinnerung,
Theaterzettel und Konzertankündigungen versprechen unrastige Abende;
in der Speisewirtschaft findet sich neben der Speisenkarte die Zeitung
mit ihrem Ragout wichtiger Nachrichten und ihrer fesselnden Fülle
geistiger Anregung; im Kaffeehaus naht sich zeitgenössische Musik,
Literatur, Malerei, Wissenschaft und Geselligkeit in Gestalt von dekora-
tiven Charakterköpfen, Tonkünstlern, Dichtern, Kritikern, Studierenden
und Professoren: der Austausch setzt die vorerst angeregte Gedanken-
masse in Schwingung. Daheim, zwischen Büchern und Papier gilt
es die Schwingungen zu erhalten, zu ordnen, auszubeuten, bis sie in
die lockern Aviatikerkünste des nächtlichen Traums übergehen.

Man bemerke freundlichst, daß hier nicht von Gewohnheiten die
Rede ist, wie sie den werktäglich und amtstündlich Gebundnen vom
Bett zum Amt, von da zum Mittagtisch, Bureau, Abendschoppen und
wieder in die Lade treiben, sondern von der andrängenden Fülle von
Assoziationen, deutscher und deutlicher vielleicht: von den Eindrücken
und ihren innerlich-äußerlichen Verknüpfungen, die einem halbwegs
nachdenksam Veranlagten erlauben, am Leben der Kultur, das heißt
der mehr oder minder kultivierten Mitmenschen teilzunehmen, be-
obachtend, vergleichend, eingreifend, nachahmend, verurteilend oder
wie immer. Stehender äußerer Formen, als welche „Gewohnheiten"
heißen dürften, bedarf es dazu nicht.

Morgen aber werde ich verreisen. Ich wiege mich auf dieser Vor-
stellung; denn ein solcher Lntschluß ist immer schwer, bedenkt man
die Kürze des Lebens und die endlose Menge der zu leistenden Arbeit.
Iedoch, die Erfahrung lehrt, daß die Arbeit leichter von der Hand,
anregsamer im Kopf herum geht, liegt zwischen heute und heute in
acht Tagen eine Flucht aus dem Bereich der alltäglichen Assoziationen.
Warum ist das wohl so? Gewohnheiten sind die Gefahr dessen, der
einsam lebt, so sagt man; der Sonderling liebt es, um halb acht seine
Ahr zu ziehen, 7 Uhr 3s sein linkes, 7 Uhr sein rechtes Bein
aus dem Bett zu heben, und um 7 lihr 59 mit seines Kafsees Ver-
schluckung zu beginnen, auf daß er 3 Achr j5 seine Feder zum ersten-
mal in die tintige Dunkelheit tauche.

Wiederkehrende Assoziationen, die sich ohne erneute Wirkung inein-
anderschachteln, abgestumpfte Lindruckfähigkeit, Schwingung ohne
lebendigen Inhalt — so heißen etwa die Gefahren des nichteinsamen
Kulturarbeiters. Wer kennte nicht den Statistiker, der in Theater,
Restauration, Kasino oder Gerichtssaal immer die Säuglingssterblich-
keit für alles Malheur verantwortlich macht, den Künstler, der die



st Iuliheft
 
Annotationen