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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

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Heft 21 (1. Augustheft 1912)
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Stapel, Wilhelm: Frauenstimmrecht
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https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0196
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Iahrg.25 ErstesAugustheft 1912 Heft21

Frauenstimmrecht

roße Bewegungen in der Volks- und Menschheitsgeschichte ziehen
S^^ihre Macht über die Gemüter niemals aus der wissenschaftlich
^^^klaren Begründnng ihrer Forderungen, sondern sie werden ge-
tragen von einem ganz allgemeinen Billigkeitsempfinden, das sich in
der Formel niederschlägt: Es ist gerecht, daß —, oder: Es ist ver-
nünftig, daß—. Dieses allgemeine Gefühlsurteil über das, was
recht und vernünftig sei — man spricht es bezeichnenderweise oft mit
einem „doch" aus: „Es ist doch recht und billig" — dieses Urteil steht
seinem Lrkenntniswerte nach auf einer andern Stufe als das wifsen-
schaftlich begründete Urteil: Es läßt sich in ein und derselben Seele
unmittelbar hintereinander für völlig entgegengesetzte Gedankenin-
halte wachrufen. Geschickte politische Agitatoren wissen es deshalb
meisterhaft auszuspielen, sie ersparen sich damit die Mühe einer ernst-
haften Begründung ihrer Absichten und setzen an deren Stelle die
Wlederholung und Steigerung eines bestimmten Gefühlserlebnisses.
Wahrheit aber kann nicht von allgemeinen Gefühlsurteilen verbürgt
werden; darum kann eine Erregung der Geister, die ihren Grund nur
in solchen Urteilen hat, zwar sehr wirksam sein, aber doch in die
Irre gehn. Ia, es kann mit der Selbstvernichtung auch des an sich
Guten enden, das es enthält. Die Geschichte ist voll von solchen
Katastrophen, großen und kleinen. Es gehört also kein Weitblick zu
der Behauptung: wie durch alle Zeiten fluten sicherlich auch durch die
unsrige Bewegungen, die einst in den Abgrund stürzen werden.

Die tiefe und wertvolle Frauenbewegung, die alle Völker abend-
ländischer Kultur erfaßt hat und zusehends an Ausdehnung und
Nachhaltigkeit gewinnt, wäre unmöglich, wenn nicht in diesen Völkern,
sobald sie eine gewisse Art und Höhe der Kultur erreichen, ein allge-
meines und lebhaftes Bewußtsein davon erwachte, daß es „eigentlich"
nicht billig sei, die Frau unter andere ethische, soziale, rechtliche
Bedingungen zu stellen als den Mann. Dieses Bewußtsein muß sich
indem Augenblicke geltend machen, wo man das „andere" entweder als
„drückender" oder als „unwürdiger" empfindet. Daß aber mit diesem
Gefühlsurteil an fich, und sei es noch so verbreitet, das Recht
der Bewegung oder auch nur die Möglichkeit ihrer Ziele keines-
wegs sicher begründet ist, das hat gerade eine Anzahl führender
Frauen sehr wohl erkannt, und so haben sie begonnen, den Wert
und damit die Berechtigung der treibenden Kräfte sowohl wie der
Ziele kritisch zu untersuchen. Man darf die Bedeutung gerade dieser
Bemühungen, wenn sie auch nicht so in die Augen fallen wie die
mehr phonographischen Leistungen der Agitation, sehr hoch schätzen.
In ihnen kann sich offenbaren, ob die Frauenbewegung schöpferische
Kräfte in sich birgt, die etwas beizutragen haben zu einer wirklichen
Erhöhung der Kultur, Kräfte also, bei denen wir nicht besorgt zu sein
brauchen, daß sie das pulsende Leben zunächst überreizen und dann
lähmen könnten.



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