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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

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Heft 20 (2. Juliheft 1912)
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Lose Blätter
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Rundsschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0137
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Den Tag des seidenen Glanzes
Den Glockenrosentag.

Wir gingen in gläsernen Schuhen —

Äber Grases Taufunkengeblitz
Glänzte der Füße Seide:

Traurnliebe, du weißt es noch.

Traumliebe, du weißt noch den Morgen —
Wir gingen so langsam still,

Vom goldenen Reif umschlossen —
Traumliebe im Rosenduft.

Rundschau

Wiffenschaft als Kleid

s sind sehr verschiedene Kräfte,
die in den verschiedenen Zeit-
altern die Hegemonie führen. Man
erkennt sie daran, daß alles ihr
Kleid trägt. Im beginnenden Mit-
telalter ist es die Religion. Alle
Wissenschaft trägt ihre Farbe, sührt
sich unter religiösen Begründungen
ein. Man kann sagen: selbst Ame-
rika wurde aus Missionsinteresse
entdeckt. Ebenso geht alle Kunst
in ihren Gewändern. Man malt
Marterbilder, Versuchungen, Poti-
phars Weib, Susanna, Magdalena,
um Akte malen zu können. Oder
Legendenzyklen, um zu erzählen,
Madonnen und Heilige, um Men-
schen zu malen. Der gewöhnliche
Anverstand legt sich das so aus,
daß man religiöse „Vorwände" ge-
sucht hätte, um Dinge zu erreichen,
die man selbst ganz außerhalb der
Religion sah. An solchen Gedan-
kengängen erkennt man den Phi-
lister: er sieht nirgends zusammen-
oder gegeneinanderstrebende Kräfte,
er sieht nur immer verschmitzte Be-
rechnungen, und er fühlt sich glück-
lich, wenn er wieder einmal in
irgendeiner verehrungswürdigen
Sache ein großes Geschäft entlarvt
zu haben glaubt. Dieses Philiste-

rium kann zuzeiten geniale For-
men annehmen, wie im zweiten
(allzumenschlichen) Nietzsche. Auch
ist ja natürlich etwas daran. Wer
einmal heuchelt, wird natürlich das
heucheln, was in Ansehen steht.
Nur die Vorstellung, daß alle reli-
giöse Begründung wissenschaftlicher
oder künstlerischer Schöpfungen be-
wußt nur Vorwand sei, — abge-
sehen noch von ihrer nichtsnutzigen
Kleinlichkeit — hebt, zu Ende ge-
dacht, sich selbst auf. Denn wenn
man hoffen konnte, für die religiöse
Begründung ganz anders gemein--
ter Arbeit Glauben zu finden, so
kann man ebensowohl selbst an eine
solche religiöse Bedeutung seiner
Arbeit geglaubt haben.

Heute ist die unbestrittene Hege-
monie in den Händen der Wis-
senschaft. And alsbald sieht man
ganz allgemein alles wissenschaft-
liche Farbe — Schutzfarbe sozusagen
— annehmen. Ieder prophetische,
künstlerische, religiöse Gedanke sucht
sich als wissenschastlich gedacht aus-
zuweisen. Selbst mystische und
okkultistische, ja gemein abergläu-
bische Gedanken prätendieren, Wis-
senschaft zu sein. Ganze religiöse
Sekten, wie die der Gesundbeter,
tauchen auf, die sich als „Ehrist-

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