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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1912)
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Avenarius, Ferdinand: Aussprachen mit Juden
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https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0292
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Iahrg. 25 Zweites Auguslheft 1912 Hest22

Aussprachen mit Iuden

enn wir eine förderliche Aussprache über Iuden und Nicht-
juden wollten, so schien es erwünscht, zunächst Iuden zu hören.
Als eine Forderung der Ritterlichkeit: sie sühlen sich durch uns
beschwert, und wenn das Umgekehrte für sehr viele Nichtjuden gleich-
salls gilt, so sind doch sie in der Minderheit. Weiter: ich meine, wer
irgendwie besonnen und haßlos denkt, kann die Tragik nicht leugnen,
an der gerade die tüchtigsten Iuden unter uns leiden, eine Tragik,
die an sich schon zu achtungsvoller Behandlung auch die geneigt
machen sollte, die ihrerseits aus dem Zusammenwohnen der beiden
Völker auch eine Tragik des Deutschtums erwachsen glauben. Wer
aber für solche Gründe nichts übrig hat, wird wenigstens den dritten
anerkennen: nur wenn unsre jüdischen Mitbürger zuerst sprachen,
konnten sie unbefangen sprechen. Ohne das Gefühl voreingenom-
mener Zuhörerschast, wie unter sich, ganz und gar osfenherzig. So
kam uns Goldsteins Aussatz überaus willkommen. Mir sind dann
gegen neunzig, großenteils sehr umfängliche Manuskripte, bis auf
ein halbes Dutzend von jüdischen Verfassern zugegangen. Machte
es diese Zahl ganz unmöglich, auch nur einen großen Teil davon
wiederzugeben, so bin ich mir doch bewußt, absichtlich keinen von
jüdischer Seite mir mitgeteilten Gedanken unterdrückt zu haben, der
meiner Einsicht nach wesentlich oder charakteristisch war. Mir scheint
in der Tat: Goldsteins Aussatz und die zweimal im „Sprechsaal"
ausgenommenen Lrwiderungen und Ergänzungen geben ein sormen-
und sarbenreiches Spiegelbild vor allem davon, wie unsre Iuden
denken. Wo ist ein ähnliches aus knappem Raume zu finden?
Betätigen wir den Linsendern unsern Dank durch das Bemühen, sie
zu verstehen, und durch ebenso ofsene Aussprache unserseits.

Nnserseits — ich möchte von vornherein sagen, wen ich unter den
„wir" verstehe. Diejenigen Schreiber und Leser des Kunstwarts, die
sich gleich mir deutschnational fühlen „bis in die Knochen", aber
(ausweislich der Mitarbeit von Iuden an nnserm Blatte dieses ganze
Vierteljahrhundert hindurch:) nicht antisemitisch. Wir wissen, daß es
Arbeiten gibt, für welche die Inden besser befähigt sind, denn wir,
und glauben, daß wir für andre besser befähigt sind, denn sie, wir
hoffen, daß bei ernstem Willen beiderseits ein friedliches Miteinander-
wirken möglich wäre, aber wir sind überzeugt, daß dies aus die
jetzige Weise nicht lange mehr geht. So versuchen wir, eine Ver-
stündigung zunächst zwischen Führern hüben und drüben vor-
zubereiten. Versuchen das, weil wir glauben, daß es ver-
sucht werden muß, um schwere Kulturkämpfe zu vermeiden, hoffen
aber bei der wachsenden Lrregnng der Geister nicht auf baldigen
breiten Lrfolg.

Um nun zunächst vom Tatbestand zu reden: wir sind gleich so vielen
Iuden davon überzeugt, daß die Abneigung gegen das Iudentum
in den letzten Iahrzehnten gewachsen ist. Die antisemitischen Parteien

2. Augustheft W2 225
 
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