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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

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Heft 20 (2. Juliheft 1912)
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Schumann, Wolfgang: Literaturwissenschaft
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0107
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Durch methodische Vergleichung der ästhetischen Urteile sowohl wie
der ästhetischen Produktionen muß man versuchen, nicht bloß die indi-
viduellen Besonderheiten sondern das für ganze Grnppen oder Epochen
charakteristische Gemeinsame herausznfinden nnd so eine Geschichte
des Geschmackes zu konstruieren.^ Nicht eine Wissenschaft allein wissen-
schaftlich zu diskreditieren galt es hier, die in mancher Hinsicht nicht
ohne großes Verdienst ist, obwohl diese auf einer veralteten und leblosen
Psychologie beruhenden Grundsätze wohl auch im streng wissenschaft-
lichen Sinn einer Kritik dringend bedürfen. Aber dankbar darf man sein,
wenn eine Autorität ersten Ranges, wie der „Grundriß-Verfasser", sich
so unzweideutig über das wissenschaftliche Streben ausspricht. Das
gibt wenigstens Klarheit zum Gefecht. Denn wer auch nur von Ferne
den lebendigen Vorgang einer ästhetischen Reaktion, jenes Lindringen,
Versinken, Lrweitert-, Erhoben- und Beglücktwerden, endlich die Um-
bildung des ästhetischen Erlebnisses in lebendige Aktion an sich er-
fahren hat, der wird sich freuen, von diefer Wissenschaft verschont ge-
blieben zu sein; der wird diese sogenannte historisch-empirische Asthetik
als eine Form des ästhetischen Selbstmordes fühlen und wissen,
daß diese Wissenschaft mit ihrem „Verstehen", mit ihrer Quellen-
und Textkritik, ihrer Analyse und Einflußforschung, ihrer Interpre-
tation, Lharakteristik und Asthetik die würdigste und höchste Aufgabe
ihrer selbst noch gar nicht erkannt hat.

Stellt man sich aber das millionenfache Anheil lebhast vor, das
heute geschieht, indem diese Wissenschaft Alle an sich zieht, welche die
lebendige Wissenschaft suchen und von ihr das Leben erhoffen — so
wird man vielleicht sogar die tiefe Mißstimmung, ja den Haß und
die Verzweiflung begreifen, welche die heutigen Zustände in Vielen
erregen. Andererseits aber kann glücklicherweise das innere Leben eines
Volkes trotz dieses wissenschaftlichen Vernichtungkampfes gegen seine
Quellen und Fruchtwässer nie ganz erstickt werden. Und der ermuti-
gende Anblick dieses inneren, immer neu geborenen Lebens ruft un-
aufhörlich wieder die Sympathie, die Zustimmung hervor und den
Lntschluß zum Kampf gegen die Abergriffe abtötender Betriebe und
Elemente. Dieser Kampf, der gerechtesten einer, kann erst mit dem
Ende jeder lebendigen Hoffnung auf edlere und schönere Lebensformen
der Nachfahren sein Ende finden. Wolfgang Schumann

Lose Blätter

Aus der Charonbewegung

sSeit langer Zeit schon beteiligt sich mit Ernst und Opfermut eine
Reihe von Männern und Frauen an dem, was wir die Lharonbewegung
nennen, eine viel zu lange Zeit, als daß sich's hier bloß um Spielerei
handeln könnte. Trotzdem sind ihre Bemühungen außerhalb eines sehr
engen Kreises nicht gewertet und kaum beachtet worden. Auch ich bin
nicht imstande, sie zu werten, weil ich schlechterdings nicht imstande war,
mich auch mit umfangreichen Charonveröffentlichungen so vertraut zu
machen, daß dies eine Kritik wirklich fest begründen könnte. Also lasse ich
die Hauptvertreter der Bewegung selbst sprechen, um statt Arteile über

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