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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1912)
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Schumann, Wolfgang: Dichtungen von Kindern
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https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0383
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Dichtungen von Kindern

„das Kind" erst spät in der Entwicklung der Dichtung als
selbständiger Gegenstand der Gestaltung auftritt, ist hinlänglich
bekannt; aber so unauffällig literarisch Erfahrenen diese Tatsache
sein mag, so verwunderlich erscheint sie doch, sobald man einmal von
Gewöhnungen und historischen Einstellungen absieht. Nur die Erkennt-
nis, daß es meist überhaupt nicht Wirklichkeit in unserm heutigen Sinn
war, die früher den Poeten anregte, vermag einigermaßen zu erklären,
wie man durch die Iahrhunderte hin an dem reichen Felde von Erleb-
nissen so achtlos vorübergehen konnte, als welches sich uns die kind-
liche Seele darstellt. An all den äußeren Anlässen und den inneren
Bewegungen, aus denen Dichtung früher hervorging, hatte das Kindtum
wenig Teil; das religiöse Leben, die politischen und staatlichen Komplexe,
das spekulative Denken, die stilisierte Kunst konnte mit den Formen des
menschlichen Werdens, des Nnfertigen und Halbbestimmten nicht recht
in Berührung kommen. Erst der biographische Roman mochte ernstlich
an die Grundlegung der Gestalten greifen, mit denen er es zu tun hatte,
man suchte dichterisch so hell wie möglich das Innenleben des Erwachsenen
zu schildern und stieß dabei wohl auf mancherlei Rückwärtsweisendes,
aus der Gegenwart allein nicht Erklärliches; so wurde allmählich das
Kind aus einem Requisit, das es etwa im „Don Carlos" noch war,
zu einem poetischen Helden. „Wilhelm Meister" beginnt nach Abschluß
der Kindheit, nur mit einem kurzen Rückblick auf Wilhelms kindliche
Theaterleidenschaft; der „Grüne Heinrich" widmet ihr einige Kapitel;
heute beginnt ein großer Teil aller Romane mit Kindheitsschilderungen,
und der sehr bekannte lebende Dichter dürfte keine seltene Ausnahme
bilden, der mir einmal sagte: es komme ihm unvergleichlich schwierig vor,
nicht mit den ersten Anfängen individuellen Lebens, also mit der
Kindheit jeden einzelnen seiner Romane zu beginnen.

Hat solchergestalt der wissenschaftliche Gedanke der Evolution allmäh-
lich auch in der Poesie sich Geltung erobert, so beobachtet man natürlich
in der Wissenschaft selbst erst recht das Vordringen des Kindes. Auch
hier ist langsam und unglaubhaft spät das Forschen und Fragen an die
Seele des Kindes herangekommen, die herrschgewaltige Pädagogik der
Mitte des vorigen Iahrhunderts kannte sie nur sehr oberflächlich. Heute
aber steht neben dem Riesenbau der allgemeinen Seelenkunde schon ein
Tempelchen, wo das zartere, undurchsichtigere Kindesinnere umworben
wird, das wie ein Sternennebel dereinst ein klar,bewegtes Planetensystem
des erwachsenen Geistes aus sich gebären soll. Nicht viel wciter als
dreißig Iahre reichen die Anfänge der Kinderpsychologie zurück, und
heute noch ist vieles darin dunkel, sraglich, sogar ungefragt, ist die

Anmerkung: Die hier besprochenen Bücher haben solgende Titel
und Verleger: Rheinsch, „Das Kindlein", Frauenverlag, München, geb.

—. Mann, „Von Kindern", Axel Iunkers Verlag, Berlin, geb. 3,50.
Mann, „Frau Sophie und ihre Kinder", Verlag Ruetten und Loening,
Frankfurt a. M., geb. H.—. Scharrelmann, „Piddl Hundertmark", Verlag
E. Fleischel L Co., Berlin, geb. 3.—. Zweig, „Erstes Erlebnis", Insel-
Verlag, Leipzig, geb. 5.—.

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