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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

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Heft 23 (1. Septemberheft 1912)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0401
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wissen, daß man sie belogen hat, daß alle Menschen schlecht und nieder-
trächtig sein können. Sie lieben ihre Eltern nicht mehr, sie glauben
nicht mehr an sie. Zu keinem, wissen sie, werden sie Vertrauen haben
dürfen, nun wird sich aus ihre schmalen Schultern die ganze Last des
ungeheuren Lebens türmen. Wie in einen Abgrund sind sie aus der
heiteren Behaglichkeit ihrer Kindheit gestürzt. Noch können sie das
Furchtbare, das um sie geschehen ist, nicht fassen, aber ihr Denken würgt
daran und droht sie damit zu ersticken. Fiebrige Glut liegt auf ihren
Wangen, und sie haben einen bösen, gereizten Blick. Wie frierend in
ihrer Einsamkeit irren sie auf und ab. Keiner, nicht einmal die Eltern,
wagt mit ihnen zu sprechen, so furchtbar sehen sie jeden an, ihr un-
ablässiges Herumwandern spiegelt die Erregung, die in ihyen wühlt.
Und eine schreckhafte Gemeinsamkeit ist in den beiden, ohne daß sie zu-
sammen sprechen. Das Schweigen, das undurchdringliche, fraglose Schwei-
gen, der tückische verschlossene Schmerz ohne Schrei und ohne Träne
macht sie allen fremd und gefährlich. Niemand kommt ihnen nahe, der
Zugang zu ihren Seelen ist abgebrochen, vielleicht auf Iahre hinaus.
Feinde sind sie, sühlen alle um sie, und entschlossene Feinde, die
nicht mehr verzeihen können. Denn seit gestern sind sie keine Kinder
mehr.

An diesem Nachmittag werden sie älter um viele Iahre. Amd erst,
wie sie dann abends im Dunkel ihres Zimmers allein sind, erwacht in
ihnen die Kinderangst, die Angst vor der Einsamkeit, vor den Bildern
der Toten und dann eine ahnungsvolle Angst vor unbestimmten Dingen.
In der allgemeinen Erregung des Hauses hat man das Zimmer zu
heizen vergessen. So kriechen sie fröstelnd zusammen in ein Bett, um-
schlingen sich fest mit den mageren Kinderarmen nnd pressen die schmalen,
noch nicht aufgeblühten Körper eine an die andere, wie um tzilfe zu
suchen vor ihrer Angst. Noch immer wagen sie nicht mitsammen zu
sprechen. Aber jetzt bricht die Iüngere endlich in Tränen aus, und die
Ältere schluchzt wild mit. Eng umschlungen weinen sie, baden sich das
Gesicht mit den warmen, zaghaft und dann rascher niederrollenden Tränen,
fangen, Brust an Brust, die eine der anderen schluchzenden Stoß auf
und geben ihn schauernd zurück. Ein einziger Schmerz sind die beiden,
ein einziger weinender Körper im Dunkel. Es ist nicht mehr das
Fräulein, um das sie weinen, nicht die Eltern, die nun für sie verloren
sind, sondern ein jähes Grauen schüttelt sie, eine Angst vor alledem,
was nun kommen wird aus dieser unbekannten Welt, in die sie heute
den ersten erschreckten Blick getan haben. Angst haben sie vor dem
Leben, in das sie nun auswachsen, vor dem Leben, das dunkel und
drohend vor ihnen steht, wie ein finsterer Wald, den sie durchschreiten
müssen. Immer dämmerhafter wird ihr wirres Angstgefühl, traumhaft
sast, immer leiser ihr Schluchzen. Ihre Atemzüge fließen nun sanft
ineinander, wie vordem ihre Tränen. And so schlafen sie endlich ein.

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