Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1924)
DOI Artikel:
Geramb, Viktor von: Deutsches Bauerntum
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0167

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Es gibt kein „Exzedieren" . . . Selbst die Bauernrauferei zeichnet sich nrehr
durch wohl- und bedächtig gezielte Maulschellen und Bierkrügelgeschosse,
denn durch verzerrte, bleiche Gesichter und rasende Nervenaufgepeitschtheit
aus . . .

So fehlt auch im Ernst und im härtesten Nnglück der schreiende, wahn--
sinnig tobende Schmerzensausdruck, der hysterische Exzeß! Ich hatte einmal
die bitters Aufgabe, einer Bergbauernfamilie die Nachricht zu überbringen,
daß ihr Sohn schwer verwundet, mit Brustschuß in italienische Gefangen--
schaft geraten war. Die Leute waren grade beim Kornschneiden. Als ich
ihnen die Nachricht vorlas, hielten weder Vater noch Mutter noch die Ge-
schwister auch nur eine Sekunde in ihrsr Arbeit inns, schweigend hörten sie
zu und schweigend schnitten sie weiter. Nach der Arbeit freilich erfuhr ich,
wie die Mutter sich eine ganze Nacht in ihre Kammer eingesperrt und nie-
mandeu. zugelassen habe.

Dasselbe Maßhalten zeigt sich auch in der bäuerlichen Arbeit. Es wird
viel, es wird stark, es wird durchs ganze Leben hart gearbeitet, es gibt im
Bauerntum keinen Achtstundentag, wohl aber zur Erntszeit — Sechzehn-
stundentage und darüber. Aber es gibt kein Hasten, keine bis zur Explosion
gespannte Aberhitzung und Ausnutzung des Energievorrates. Spielende
Energie, Dreiviertelkraft nennt das l'tzouet. Es bleibt immer noch ein Aber-
schuß an Krast. Der Feierabend läßt jeden Tag in Ruhe verklingen, der
Sonntag jede Woche und das Wintervierteljahr jedes Jahr. Es gibt kein
Bremseln, es ist immer noch Zeit übrig. Der Bauer kann zwei Stunden zu
früh auf die Bahn kommen (ab und zu auch eine Stunde zu spät), aber er
wird nie drei Minuten vor Abgang des Zuges daherjagen. Der Bauer
kennt auch keine Dreiminutenbesuche. Wenn er einen Besuch macht, sitzt er
stundenlang. Es wird wenig geredet, aber es wird fest und dauerhaft ge-
sessen. Oft kommt erst ganz zum Schluß, wenn der Besucher schon zum Ab°
schied auf der Türschwelle steht, der eigentliche Grund des Besuches ans
Tageslicht, ein Handel oder ähnliches. Kurz, der Bauer hat Zeit! . . .

(Eine letzte Seite bezeichnet l'Houet als Abersinnlichkeit). Sie wird
man freilich am einzelnen Bauern nicht studieren können, denn mit diesen
innersten seelischen Dingen hält der einzelne Bauer keusch zurück. Aber
desto klingendsr spricht gerade diese Eigenschaft aus dem Bauern-
tum. Da gibt es kein Flecklein in Wiese und Wald, in Hof und Haus,
das nicht mit übersinnlichen Dingen, mit Waldgeistern und Zwergen,
mit Waldfrauen und Riesen, mit Irrlichtern und Kobolden, mit Drachen und
wilden Iägern und wie alle die Dinge des Volksglaubens, der Volkssage,
des Volksmärchens heißen, beseelt wäre. Auch heute noch! IH halte nichts
auf die sogenannte «Aufgeklärtheit", mit der sich manche junge Bauern-
burschen, sobald sie von der Militärzeit heimkommen, brüsten. Das Aber-
sinnliche sitzt — Gott sei Dank! — viel zu tief in der bäuerlichen Volks-
seele, als daß das ein paar nüchterne, lehrhafte Phrasen so rasch zerstören
könnten. Tatsächlich schwindet die sogenannte „Aufgeklärtheit" auch sehr
rasch, wenn man einmal wirklich das Vertrauen eines Bauernmenschen
so weit gewonnen hat, daß er über diese Dinge überhaupt spricht. Tut er
das, dann sieht man, wie Roseggers prachtvolle Schilderungsn von der
„Drachenbinderin" oder „Von Nnserer Lieben Frau", deren goldenen
Mantelsaum die Mutter dem Büblein an den Abendwolken zeigt, voll-
kommen der Wirklichkeit entsprechen, dann lächelt man nicht mehr, sondern
dann ist man bis zur Erschütterung ergriffen, wenn man — wie ich das buch-
 
Annotationen