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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 34.1991

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Buchbesprechungen
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Sallmann, Klaus: [Rezension von: Andreas Fritsch, Lateinsprechen im Unterricht. Geschichte - Probleme - Möglichkeiten]
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https://doi.org/10.11588/diglit.35875#0022

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Buchbesprechungen

Andreas Fritsch; Lateinsprechen im Unterricht. Geschichte — Probleme — Möglichkeiten.
C.C. Büchner, Bamberg 7990 (Auxi/ia 22J
Als Großbritannien um die Jahrhundertwende durch Burenkriege und Ersten Weltkrieg aus jahr-
hundertelangem Schlaf humanistischer Schultradition aufgeschreckt, um eine Neuorientierung
auch der klassischen Schulfächer rang, hatte die radikalste aller vorgeschlagenen Methoden den
anhaltendsten Erfolg: W.H.D. Rouse^ propagierte einen einsprachigen Lateinunterricht und
praktizierte ihn bis weit in die zwanziger Jahre hinein. Aber nur scheinbar wiederholte er die Pra-
xis der alten Lateinschule des 16., 17. und 18. Jahrhunderts; ihm ging es nicht um den Anschluß
an eine längst verschwundene Gelehrten-Universalsprache, sondern um die Erfüllung eines bis-
her mechanisch tradierten semantischen und syntaktischen Sprachmaterials mit Leben. Hier
führte die ,,tote" Sprache, deren Körper zu beliebiger Leichenschändung freigegeben^ war, aus
der Anatomie heraus auf den sonnigen Schulhof, wo sie sich unvorsehens als lebhafte Ge-
sprächspartnerin und Spielkameradin erwies.
Damit ist schon die Kernaussage des liebenswürdig und ohne Polemik dezent werbenden Bu-
ches erreicht. Es bringt die seit der durch Saul B. Robinsohn 1967 ausgelösten Lehrplanreform
der frühen 70er Jahre^ geltenden Maxime, daß Lateinsprechen und Lateinkomposition nicht in
die Schule gehöre, auf die m.E. richtige Formel: wenn denn Latein ,,Sprachmodel!" sein sollt
wie kann dann die ganze erlebbare (affektive) Seite der Sprache (Hörverstehen, Nachsprechen,
Spontansprechen) fehlen? ,,Wie weit kann die Vernachlässigung des Sprechens gehen, ohne daß
die Wissenschaft darunter leidet?" (Renate Haas)t Die gutgemeinte Reduktion des Lateinischen
als Rezeptions- und Texterschließungssprache, die eine plausible Differenzierung vom moder-
nen Fremdsprachenunterricht beschreiben wollte, macht aus einer Sprache irgendwann Papier.
Gewiß ist die Pathologie als Wissenschaft lehrreich und unentbehrlich, aber der lange Aufenthalt
im Sezierkeller kann junge Menschen auf Dauer nicht locken. Der Hinweis auf die Lebendigkeit
des zu erschließenden Inhalts aber verweist sofort auf die Sprache zurück, und diese ist nun mal
ein primär akustisches Phänomen.
So halte ich die Frage, ob Lateinsprechen ein Lernziel sei, für falsch gestellt. Was man unter La-
teinsprechen alles als Inhalt und Zweck subsumieren kann, zeigt Fritsch in seinem ausführlichen
und vergnüglichen ersten Teil ('Zur Geschichte des Lateinsprechens in der Schule', fast die Hälfte
des Buches), der eine staunenswerte Linie des Lateinsprechens entwickelt von Erasmus über Re-
formation, die Philanthropen, Neuhumanisten und Reformpädagogen bis hin zur Richertschen
Reform (1924), angereichert durch Beispielzitate aus 'Schülergesprächen', denen oft ganz aktuel-
les Sprachmaterial zu entnehmen ist. Dabei verschlägt es wenig, daß Fritsch selten aus den Origi-
nalschriften, sondern meistens aus den bewährten Pädagogikgeschichten von F. Paulsen (^1919),
P. Dettweiler (^1906), F.H. Eckstein (1887) u.a. zitiert oder einfach auf den Fachlexika fußt. Das
erstaunliche Ergebnis ist jedenfalls, daß ungeachtet aller Motivationsveränderungen Lateinspre-
chen in der Schule erst vor fünfzig bis sechzig Jahren aufgehört hat — natürlich nie ganz — und
daß erst jetzt das pädagogische und didaktische Tabu der Ächtung des lebenden Lateins gebro-
chen ist — wenn es auch noch nicht alle gemerkt haben. Immerhin konnte die Officina Latina des
Hamburger Altphilologen-Kongresses im April 1990 über zwei Drittel der Teilnehmer (es gab
zwei Parallelveranstaltungen) bei sich versammeln, als Fritsch die Gelegenheit hatte, sein Buch
vorzustellen.6 Es ist hierzulande schier unvorstellbar, daß in gewissen westeuropäischen Ländern
der lebendige Gebrauch der lateinischen Muttersprache Europas als 'rechtsradikal' oder gar 'fa-
schistisch' bezeichnet werden konnte und noch kann.
Nach Krüger, von dessen Milderung ja eigentlich Umkehrung des ursprünglich abweisenden

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