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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 34.1991

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Podosinov, Aleksand'r V.: Zur klassischen Bildung in Rußland
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https://doi.org/10.11588/diglit.35875#0114

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Zur klassischen Bildung in Rußland

"Latefnunterrfcbt wieder in die Schu/en der Sowjetunion einzuführen, aus denen er vor siebzig
Jahren mit Cewait vertrieben wurde, ist eine der größten Aufgaben, die sich heute uns Latinisten
ste/it." So schrieb ich vor gut zwei Jahren im Tätigkeitsbericht unserer iateinischen Soda/itas. Wie
wir erfahren, hat es unserer westiichen TJiife oder Anregung nicht bedurft. Aiexander Podossinov,
K/assischer Phi/o/oge an der Universität Moskau, u.a. auf Ovid speziaiisiert JOvids Dichtung ais
Quei/e für die Geschichte des Schwarzmeergebietes, Konstanz 7 987) und Liebhaber auch des ge-
sprochenen Lateins, berichtet über die neueste Pntwickiung.
WtLFRIED STROH

Etiam in scholis Russiae nunc Latine loquuntur . . .
Zur Wiederbelebung der klassischen Bildung in der Sowjetunion
Perestrojka brachte uns die Gedankenfreiheit und damit auch die klare Erkenntnis, daß jetzt alles
nur noch von uns selbst abhängt und nicht mehr von anonymen staatlichen Funktionären, die
früher allein entscheiden durften, was, wie und wieviel in der Schule unterrichtet wird. Die Er-
neuerung auf vielen Gebieten unseres geistigen Lebens, oder vielleicht genauer gesagt: die Rück-
kehr zu alten allgemein-menschlichen, humanistischen und europäischen Werten erweckte da-
bei auch wieder die Idee der klassischen Gymnasien mit ihrem altsprachlichen Unterricht, wie es
sie vor 1917 gegeben hatte.
Vor zwei Jahren brachten die Zeitungen eine sensationelle Nachricht aus Leningrad (jetzt wieder
St. Petersburg). Ein Professor der Leningrader Universität, der Klassische Philologe Alexander Saj-
zev, gründete ein "Gymnasium" (ein schon lange vergessenes, altmodisch klingendes Wort) mit
Latein und Altgriechisch. Seitdem gibt es in Leningrad mindestens zwei Gymnasien, an denen die
Schüler von der 5. Klasse an Latein und von der 7. Klasse an Griechisch lernen, und zwar 5 Stun-
den in der Woche, also praktisch jeden Tag. In Moskau sind fünf Gymnasien und drei Lyzeen ge-
gründet worden, und weitere entstehen gegenwärtig in vielen Städten der Sowjetunion (insge-
samt ca. 200 Gymnasien waren am 1. September 1990 registriert). Dieser Prozeß läuft bis heute
spontan, praktisch ohne staatliche Organisation.
Schon jetzt ist klar, daß drei Typen der Mittelschule - also des "Gymnasiums" nach heutigem
deutschen Sprachgebrauch - entstehen, an denen altsprachlicher Unterricht in verschiedenem
Umfang erteilt wird. Einige, wie z.B. in Leningrad, bekommen den vollen Status des klassischen
Gymnasiums mit Latein- und Griechischunterricht in der Art der vorrevolutionären altrussischen
Gymnasien. Weiter existiert die allgemein-humanistische Schule, die nur Latein (dies aber obliga-
torisch) von der 6. oder 9. Klasse an im Lehrplan hat. Endlich gibt es eine große Anzahl von Schu-
len, an denen Latein nur in einer Klasse bzw. fakultativ für alle Schüler unterrichtet wird. D.h.,
der Lateinunterricht beginnt jetzt auf verschiedenen Klassenstufen, wird mit verschiedener Inten-
sität durchgeführt und verfolgt auch verschiedene Ziele. Nicht selten sind dabei freilich auch die
Fälle, wo Direktoren Latein allein aus Prestige- oder Modegründen einführen wollen, ohne klare
Einsicht in das Wie und Wozu. Aber trotz der möglichen negativen Folgen solcher "klassischen
Euphorie" ist der Pluralismus der Programme verständlich und nützlich für die weitere Ausarbei-
tung fester Typen des Lateinunterrichts.
 
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