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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 34.1991

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Buchbesprechungen
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Stroh, Wilfried: [Rezension von: Anna Elissa Radke, Mein Marburger Horaz]
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https://doi.org/10.11588/diglit.35875#0067

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Und doch gibt es seit einigen Monaten einen lesbaren deutschen Horaz! Zwar hat auch er nichts
Marmornes an sich, aber dafür steckt er voller Leben, er berührt und bezaubert. Da beginnt die
Ode, deren erste Strophe wir soeben in der (relativ wohlgelungenen) Übersetzung von Hans Fär-
ber gelesen haben, dann folgendermaßen:
Bin jetzt anspruchsvoller:
Das Fußgängerzonen-Eintags-Chanson,
das tut's nicht mehr:
soll schon was Bleibendes sein,
für mehr als eine Saison.

Die Übersetzerin, Anna Elissa Radke, hat, wie man sieht, rücksichtslos das Versmaß und die Bil-
dersprache des Originals geopfert, um Horaz, seine Gedanken und sein Anliegen in den Sound
unserer Zeit zu holen: Fünfundzwanzig Oden stellt sie dem Leser vor, zwar ,,für mehr als eine
Saison" gedacht — die zitierte Strophe steht am Eingang der Sammlung —aber doch ganz be-
rechnet auf das Jahr 1990, erfüllt von den Problemen und Dingen unserer Welt: Umweltzerstö-
rung, Intensivstation, Asylanten . . . Wenn Horaz den Namen seines Augustus weintrunken unter
die Sterne setzte, dann macht sie dasselbe mit dem verstorbenen bayerischen Ministerpräsiden-
ten (der ja nicht nur ein Technikgiäubiger, sondern auch ein begeisterter Lateiner war):

Wohinein hab ich mich verrannt,
wozu verstiegen?
Zu Dionysischem gar?
In der obskuren Ecke
panegyrischer Poesie,
mir selbst entfremdet,

find ich mich wieder
an den Himmel schreibend
die drei Initialen
F und j und S
neben Cassiopeias W
(und alle Gestirne
müssen sich neu arrangieren).
- 6):

Bei Horaz hatte es geheißen (carm. 3,25,1
Quo me, Bacche, rapis tu<
p/enum? quae nemora aut quos agor in specus
ue/ox mente noua? quibus
antris egregB Caesads aud/ar
aeternum meditans decus
steBis mserere et consdio /ouis?

Mögen andere Lateiner anders urteilen: Mir scheint, bei höchster Freiheit der Umsetzung, der
Geist des Horaz hier in einer Weise erfaßt, wie das nie der Fall war — genauer gesagt: Er ist nicht
erfaßt, vielmehr hat er selber die Dichterin erfaßt und treibt sie zu neuen, kühnen lyrischen Ta-
ten. Hier muß selbst Christian Morgensterns genialer „Horatius travestitus" aus dem Jahr 1896 —
der einzige Vorgänger, den man m.W. nennen könnte — verblassen: Gegen Frau Radkes Enthu-
siasmus liest er sich doch in der Tat nur wie ein gehobener,,Studentenscherz" (nach Morgen-
sterns eigener Formulierung). Man vergleiche etwa das berühmte Carpe d(em (carm. 1,11,8) —
soeben wieder eingeschärft in Peter Weirs Film ,,Dead Poets Society" — in beiden Fassungen:
Amüsier dich, und laß Wein und Konfekt schmecken dir wie bisher!
Seufzen macht mich nervös. Nun aber Schluß! All das ist Zeitverlust!
Küssen Sie mich, m'amie! Heute ist heut! Aprbs nous /e dö/uge.
So hieß es bei Sprachmeister Morgenstern. Aber jetzt klingt es so:

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