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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 36.1993

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Barié, Paul: "Du hast keinen Anteil an den Rosen Pierias ...": Nachlese zu Sappho fr. 58
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https://doi.org/10.11588/diglit.35882#0060

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„Herz" und „Mut", zum ICH gelangen, und das ICH nimmt sich selber wahr, in der Distanz zu
seinen eigenen Te.ilen. So wird es möglich, - im Modus des pars pro toto - zu sich selbst zu
sprechen. Angenommen nun, das „DU" in unserem Fragment wäre, als Sapphos eigenes „DU",
an sie selber gerichtet: Was würde sie mitteilen wollen?
Sie würde wohl ihren eigenen Tod imaginieren, ihn so radikal vorwegnehmen, daß damit auch
ihre poetische Existenz ausgelöscht würde. Mensch und Werk fielen beide totaler Vergessenheit
anheim, ohne die Chance einer Erinnerung im Wort. Pindars Gnome, wonach „das Wort länger
lebt als die Tat", wäre, lange vor ihrer Formulierung, falsifiziert, und das homerische Bild vom
Menschen, der vergänglich ist wie „Blätter im Walde", beträfe nicht nur die Abstammung
(„Edler Diomedes, was fragst du nach meiner Herkunft..."), sondern auch das Weiterleben im
Lied: alles wäre ausnahmslos „aboli bibelot d'inanite sonore": „getilgter Tand von hallender
Vergänglichkeit" (Mallarme) - in der Tat ein modernes Existenzgefühl, das meine Freunde hinter
Sapphos Worten zu entdecken glaubten.
Einmal auf diesen Interpretationsweg gebracht, könnte man in diesem DU Sapphos „Daimoni-
on" vermuten, die innere Stimme, die rigorose Selbstbescheidung von ihr verlangt; es könnte
aber auch die Göttin selber sein, die Sappho diesmal nicht die Liebe, sondern das MEMENTO
MORI in Erinnerung ruft, sie auffordert, auch ihren Dichterruhm radikal in Frage zu stellen. Die
Vorstellung vom Menschen als „Eintagswesen": als EPHEMEROS, ist dem „frühgriechischen
Denken" (das hat Hermann Fränkel in „Wege und Formen..." gezeigt) ja wohlvertraut, von
daher also eine existenzielle Deutung nicht von vornherein auszuschließen.
Bleibt das Dilemma der Begründung: „Denn DU hast keinen Ante// an den Rosen ..." Der
Rosengarten der Musen, gemeinhin Bild für die Unsterblichkeit des Dichterruhms, müßte dann
eine umfassendere Bedeutung haben und die Vergänglichkeit von Dichtung und Leben
konnotieren; der Tod, ein rücksichtsloser Gleichmacher, würde uns mit allem, was zu uns
gehört, in die Anonymität des Hades verweisen, wo wir sang- und klanglos zu verschwinden
hätten; und der Dichter hätte da kein Privileg, das ihn prinzipiell heraushöbe aus der Schar der
„kraftlosen Häupter".
Der Vers hätte dann eine andere kommunikative Dynamik, nicht: „DU (die andere, von Sappho
verachtete Frau) hast keinen Anteil an den Rosen ...", sondern: „DU (= ICH) hast, so wenig wie
irgend ein anderer Mensch, Anfe/V am Musenreich", weil auch DU, die Dichterin, dem Tod
verfallen bist. Man denkt an den jesaja-Vers, wonach „alles Fleisch wie Gras und alle Blüte des
Fleisches wie die Blüte des Grases" ist - und Dichtung ist ja doch auch irgendwie ANTHOS
SAR KOS ...
Bleibt ein grundsätzlicher Einwand: Daß ein antiker Denker nicht nur die generelle
Todesverfallenheit konstatiert, sondern auf der eigenen Bedeutungslosigkeit in einer Weise
insistiert, die einer Annullierung seiner Existenz gleichkommt, ist in vorchristlicher Zeit schwer
(in der Tragödie?) vorstellbar. Alles hängt aber letzten Endes davon ab, ob „Anteil an den Rosen
Pierias" eindeutig und ausschließlich eine Metapher für Dichtung darstellt. Ist das der Falt, dann
kann Sappho sich unmöglich diese Methexis abgesprochen haben, s/'e würde s/ch dann ja a/s
D/chfedn aus dem Musenre/cb se/ber abme/den, was einer Selbstpreisgabe gleichkäme.
Der interpretationseinfall und das ihm zugrunde liegende fruchtbare Mißverständnis sind aber
keineswegs zufällig. Horazens AERE PERENNIUS, aber auch der rigorose Stolz der Dichterin,
wie ihn die offizielle' Interpretation des Gedichtes herausstellt, sind in hohem Maße„allomorph"

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