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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 36.1993

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Nr. 2
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Barié, Paul: "Du hast keinen Anteil an den Rosen Pierias ...": Nachlese zu Sappho fr. 58
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https://doi.org/10.11588/diglit.35882#0061

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zu unserem Lebensgefühl. Der Deutungsversuch im Sinne einer existenziellen Entwertung der
eigenen Tätigkeit zeigt exemplarisch, daß dieses über zweieinhalb Jahrtausende alte Gedicht
doppelt von uns ,abgekoppelt' ist: durch die historische Dimension, die eine Perspektivierung
der Wahrnehmung zur Folge hat (mit all den unvermeidlichen Verzerrungen des
Wahrnehmungsbildes), und zusätzlich noch durch den zufallsbedingten Erhaltungszustand des
Fragmentes. Die durch doppelte Abkoppelung bewirkte De-formation setzt aber das Gedicht in
besonderem Maße unserer assoziativen Einfühlung aus, die uns Sinn-Hypothesen suggerieren
kann, die in der ,Textpartitur' nicht angelegt sind - und die uns gleichwohl auf faszinierende
Wege der Interpretation führen können.
Am Schluß bedauerteein Gesprächsteilnehmer, daß seine, modernem Empfinden näherliegende
Deutung, von der Intention des Gedichtes her offenbar nicht gedeckt sei. Hier wurde ein „Sinn
für uns" sichtbar, dem zwar keine pure Beliebigkeit eignete, der aber von der ,Partitur' nicht
vorgesehen war, aber plausibler schien als die strikt philologische Verifikation,
fazfp Texte können Bedeutungs-Aspekte suggerieren, die der Autorintention, soweit sie
philologisch zu ermitteln ist, zuwiderlaufen und die gleichwohl in sich kohärent und plausibel
sind.
Crundsätz/fcbe frage: Wie weit reicht der Ermessungsspielraum des Interpreten, wie weit die
Disponibilität der Texte? Und wo liegen die Grenzen interpretativer Verfügbarkeit?
Roland Barthes ging so weit zu behaupten, der Tod lösche definitiv die Unterschrift des Autors
aus und konstituiere dadurch die Wahrheit des Werkes, die in seiner Rätselhaftigkeit bestehe.
Das stolze Wort AERE PERENNIUS garantiert zwar die mafer/e//e Überlebensdauer des
Objektes, es fördert aber gleichzeitig seine semantische Vieldeutigkeit. Polyvaienz und
Ambiguität sind mit-konstituiert, und sie werden mit-fixiert. Doch Texte sind nicht grenzenlos
sinnoffen und beliebig ausdeutbar; jede Sinn-Hypothese muß ja (a) an die semantischen,
strukturellen und kontextuellen Textdaten rückgebunden bleiben, und sie muß (b) bruchlos
kohärent sein, daher auch in irgendeiner Weise Punkt für Punkt die Kohärenz des Textes
widerspiegeln.
In seinem Buch „Die Grenzen der Interpretation" (München 1992) wendet sich Umberto Eco
gegen eine „unendliche Abtrift des Sinns". Er revidiert seine frühere Position von der
grenzenlosen Offenheit des Kunstwerks und plädiert dafür, den Deutungsspielraum von Texten
einzuschränken und zwischen w/7/für//cber fextbenutzung und TexT/nterprefaf/on deutlich zu
unterscheiden.
Ich glaube nun, daß die geschilderte Sinn-Vermutung keineswegs willkürlich ist (sie wurde
schließlich ernsthaft und von mehreren Teilnehmern unabhängig erwogen), daß sie aber
philologisch nicht verifizierbar ist. Trotzdem ist sie, so meine ich, berechtigt: als Aufforderung,
unsere Interpretationsprämissen zu hinterfragen und die Vorläufigkeit jeder Sinnfindungs-
Hypothese zu bedenken, aber auch als erfreuliches ,Rezeptionsereignis' unserer Zeit: daß es
nämlich noch unprofessionelle Freunde antiker Dichtung gibt, und daß der Horizont /hrer
Textwahrnehmung nicht unbedingt dem philologischen Blickwinkel entspricht. Und während
sie, in ihrem unbefangenen Interesse, das Wirkungspotential der Texte eigenwillig aktivieren,
bringen sie die stumme Partitur neu zum Erklingen, auch wenn sie ihr dabei Töne entlocken
sollten, die von der Textintention zunächst nicht vorgesehen waren.
PAUL BARiE, 6747 Annweiler

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