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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 36.1993

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Nr. 4
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Aktuelle Themen
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Barié, Paul: Dauerreflexion als Berufsrisiko?: von der Lust und der Not der Legitimation
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https://doi.org/10.11588/diglit.35882#0148

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Ich werde in diesem Rahmen nur eine „öffentlichkeitserprobte' Perikope (was ja eigentlich „das
ringsum kunstvoll Behauene" heißt) vorstehend möchte aber nicht versäumen, die Kolleginnen
und Kollegen zu ermutigen, ihrerseits pointenreiche, repräsentative Kurztexte: heitere, geistrei-
che und nachdenkliche, zu suchen. Vielleicht wäre es sinnvoll, attraktive SPECIMINA für
Demonstrationszwecke zu sammeln und z. B. im MDAV abzudrucken.
Hilfreich bei der ,Perikopensuche' ist ein inzwischen fast vergessenes Werk, das aber noch in
mancher Lehrerbibliothek steht: Otto Seel. VOX HUMANA. Eine Lesebuch aus Cicero, Stuttgart
(Klett) 1949, 2. Auf!. 1963. Dort findet man knappe und pointenreiche Cicerostellen, die,
herausgelöst und als Aphorismen gelesen, eine eigentümliche Suggestivkraft entfalten können.
Beim Blättern stieß ich z. B. auf De orat. 2,299, eine Stelle, die ich mit Gewinn auch mit meinen
Schülern las und auf die ich hier aufmerksam machen möchte (Nr. 453). Sie handelt von
Themistokles' Wunsch, nicht nur erinnern, sondern auch vergessen zu können:
(1) ... Themistocles, ad quem quidam doctus homo atque imprimis eruditus accessisse dicitur
eique artem memoriae, quae tum primum proferebatur, pollicitus esse se traditurum;
(2) cum ille quaesivisset, quidnam illa ars efficere posset, dixisse illum doctorem: ut omnia
meminisset.
(3) Themistoclem respondisse gratius sibi illum facturum, si se oblivisci quae vellet quam si
meminisse docuisset.
Nach dem Vorlesen des lateinischen Textes weise man auf zweierlei hin: auf die Einfachheit von
Aussprache und Rechtschreibung als einem nicht zu unterschätzenden pragmatischen Vorteil
beim Lateinlernen, und auf die Tatsache, daß einige lateinische Begriffe und Wortstämme, die
in dem kleinen Text Vorkommen (doctus, ars/ artis, memoria, traditurum, doctorem), auch dem
Nicht-Lateiner bereits vertraut sind:
(1) „Zu Themistokles soll einmal ein gelehrter und besonders kompetenter Mann gekommen
sein; der habe ihm versprochen, er werde ihm die damals gerade bekannt gewordene
Gedächtniskunst / Mnemotechnik vermitteln.
(2) Auf die Frage, was denn diese Kunst leisten könne, habe jener Lehrer gesagt: Dann könne
er sich an alles erinnern.
(3) Doch Themistokles erwiderte, er täte ihm einen viel größeren Gefallen, wenn er ihn lehren
wollte, alles, was er wolle, zu vergessen statt sich an alles erinnern zu müssen ..."
Der Text ist zu kompliziert, um ihn vor einem Publikum ohne Lateinkenntnisse sprachlich-
grammatisch zu analysieren; man beschränke sich daher in diesem Fall auf ein ausdrucksvolles
Vorlesen und erläutere anschließend die drei Abschnitte der Textsorte ,Anekdote':
I. Das Lernangebot
II. Leistung dieses Angebots
III. Ablehnung des Angebots: Verblüffungseffekt durch Äußerung des Gegenwunsches
Ausgehend von dem Begriff ,Anekdote' (si non e vero, e ben trovato ...) und der Gestalt des
Themistokles, erwähne man die Bedeutung der Mnemotechnik für die Politiker, die stets von der
Angst vor dem Black-out geplagt werden, und verdeutliche die Pointe des (offensichtlich
souveränen und ,b!ack-out-freien') athenischen Staatsmanns: Neben der Kunst des Beba/tens
müßte es eigentlich auch eine Kunst des (erlösenden und befreienden) Vergessens geben. Man
wird die Antithese von ARS MEMORIAE und ARS OBLIVISCENDI herausarbeiten, vielleicht
auch die Begriffe Amnesie, Anamnese, Hypermnesie einführen, wobei es manchen Zuhörer
überraschen mag, daß es auch eine pathologische Form der Erinnerung, des photograpahisch

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