Raffael und Manet
Von Gustav Pauli
Raffael und Manet in einem Atem zu nennen, klingt absurd, etwa so, wie wenn
man Petrarca und Gerhard Hauptmann zusammentun wollte. Sie sind sich so fremd,
daß man sie nicht einmal in eine Antithese bringen kann. Zwischen den schärfsten
Gegensätzen besteht doch immer noch eine gewisse Beziehung — und sei es nur die,
daß sie einander widersprechen. Zwischen Raffael und Manet gibt es keine Wider-
spräche. Sie stehen einander so fern, wie Gestirne, die durch Millionen Meilen des
dunkeln Weltenraumes getrennt sind. Aber ebenso wie ein Lichtstrahl fernster Sterne
zu uns gelangt, mag es auch wohl geschehen, daß ein Formgedanke, der vor Tausen-
den von Jahren in einem Menschenhirne aufblitzte, in unserer Zeit wieder neue Gestalt
gewinnt. Und das ist hier der Fall. Wenn Raffael an einem Gemälde Manets mit-
gearbeitet hat, so war seine Rolle nur die des Vermittlers, der dem Spätergeborenen
einen antiken Gedanken, einen römischen, vielleicht einen griechischen, zutrug.
Daß Manets Dejeuner sur l'herbe eines seiner größten Meisterwerke ist, unter-
liegt keinem Zweifel. Die Feinheit und Kraft der Malerei läßt sich genießen, nadi-
fühlen, aber nicht kritisieren. Die Komposition als solche zu beachten, ist zwar nicht
mehr Mode, wenn man aber das Bild auch in dieser Hinsicht würdigen will, wird
man gewiß finden, daß sie ganz besonders angenehm gerundet sei. Wie sich die drei
Hauptfiguren in einem elliptischen Umriß zusammenfügen, wobei die Lücke in der
Mitte durch den weiblichen Akt in der Ferne ausgefüllt wird, wie das sitzende Mädchen
den Ellenbogen auf das Knie stützt, das möchte man beinah klassisch nennen. Es ist
jedenfalls ohne Beispiel in Manets übrigen Bildern. Er komponiert sonst — ich will
nicht sagen schlechter, aber zum mindesten anders.1) Kein Wunder! Denn diese Kom-
position ist in der Tat klassischen Ursprungs und geht geradeswegs auf eine Zeichnung
Raffaels zurück, die Marc Anton gestochen hat — und hinterdrein Marco Dente noch
ein zweites Mal. Schon diese wiederholte Bearbeitung zeugt für den Beifall, den der
Entwurf gleich zu seiner Zeit gefunden haben muß.
Es handelt sich um den berühmten Stich des Parisurteils (M. Anton B. 245, 246).
Deutsche Gelehrte, Otto Jahn und Anton Springer, haben es uns längst mitgeteilt, daß
die Raffaelische Zeichnung, die dem Stich zugrunde liegt, eine der späteren Arbeiten des
Meisters, aus den Motiven zweier antiken Sarkophagreliefs zusammengesetzt sei, die
sich noch heute in Rom befinden. Beide stellen das Parisurteil dar, und zwar steht
das eine Relief, dem die meisten Figuren auf der linken Hälfte der Raffaelischen Kom-
position entnommmen sind, in der Villa Pamfili, das andere, das der rechten Hälfte der
9 In dem Künstlerlexikon von H. W. Singer finde ich unter Manets Verdiensten auch „die
Befreiung vom Kompositionszwang" aufgezählt.
Von Gustav Pauli
Raffael und Manet in einem Atem zu nennen, klingt absurd, etwa so, wie wenn
man Petrarca und Gerhard Hauptmann zusammentun wollte. Sie sind sich so fremd,
daß man sie nicht einmal in eine Antithese bringen kann. Zwischen den schärfsten
Gegensätzen besteht doch immer noch eine gewisse Beziehung — und sei es nur die,
daß sie einander widersprechen. Zwischen Raffael und Manet gibt es keine Wider-
spräche. Sie stehen einander so fern, wie Gestirne, die durch Millionen Meilen des
dunkeln Weltenraumes getrennt sind. Aber ebenso wie ein Lichtstrahl fernster Sterne
zu uns gelangt, mag es auch wohl geschehen, daß ein Formgedanke, der vor Tausen-
den von Jahren in einem Menschenhirne aufblitzte, in unserer Zeit wieder neue Gestalt
gewinnt. Und das ist hier der Fall. Wenn Raffael an einem Gemälde Manets mit-
gearbeitet hat, so war seine Rolle nur die des Vermittlers, der dem Spätergeborenen
einen antiken Gedanken, einen römischen, vielleicht einen griechischen, zutrug.
Daß Manets Dejeuner sur l'herbe eines seiner größten Meisterwerke ist, unter-
liegt keinem Zweifel. Die Feinheit und Kraft der Malerei läßt sich genießen, nadi-
fühlen, aber nicht kritisieren. Die Komposition als solche zu beachten, ist zwar nicht
mehr Mode, wenn man aber das Bild auch in dieser Hinsicht würdigen will, wird
man gewiß finden, daß sie ganz besonders angenehm gerundet sei. Wie sich die drei
Hauptfiguren in einem elliptischen Umriß zusammenfügen, wobei die Lücke in der
Mitte durch den weiblichen Akt in der Ferne ausgefüllt wird, wie das sitzende Mädchen
den Ellenbogen auf das Knie stützt, das möchte man beinah klassisch nennen. Es ist
jedenfalls ohne Beispiel in Manets übrigen Bildern. Er komponiert sonst — ich will
nicht sagen schlechter, aber zum mindesten anders.1) Kein Wunder! Denn diese Kom-
position ist in der Tat klassischen Ursprungs und geht geradeswegs auf eine Zeichnung
Raffaels zurück, die Marc Anton gestochen hat — und hinterdrein Marco Dente noch
ein zweites Mal. Schon diese wiederholte Bearbeitung zeugt für den Beifall, den der
Entwurf gleich zu seiner Zeit gefunden haben muß.
Es handelt sich um den berühmten Stich des Parisurteils (M. Anton B. 245, 246).
Deutsche Gelehrte, Otto Jahn und Anton Springer, haben es uns längst mitgeteilt, daß
die Raffaelische Zeichnung, die dem Stich zugrunde liegt, eine der späteren Arbeiten des
Meisters, aus den Motiven zweier antiken Sarkophagreliefs zusammengesetzt sei, die
sich noch heute in Rom befinden. Beide stellen das Parisurteil dar, und zwar steht
das eine Relief, dem die meisten Figuren auf der linken Hälfte der Raffaelischen Kom-
position entnommmen sind, in der Villa Pamfili, das andere, das der rechten Hälfte der
9 In dem Künstlerlexikon von H. W. Singer finde ich unter Manets Verdiensten auch „die
Befreiung vom Kompositionszwang" aufgezählt.