Literatur
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Nirgends führte der Weg direkter darauf los als
hier. Die Leistungen beweisen allerdings neben
den Werken der Sonninschen Zeit einen trau-
rigen Niedergang. Das Auge reagierte nicht
mehr wie im 18. Jahrhundert auf das leise Vor-
und Zurücktreten der Flächen. Man gibt das
Risalit auf, ebenso die Stockwerkbänder und
Fensterfelder. Eine philiströse Nüchternheit glättet
die Fassade zu einem Brett mit so und so viel
Löchern. Zum Teil hängt das mit dem Auf-
kommen der Mietshäuser zusammen, über deren
großes Format man nicht Herr werden konnte. —
Aus der Periode der „historischen Stile", die
Melhop etwa bis 1860 verfolgt, hat das archi-
tektonische Gesicht Hamburgs keine wesentlich
individuellen Züge gewonnen.
In einem besonderen Kapitel wird das Innere
des alten hamburgischen Kaufmannshauses behan-
delt. Hierfür liegt weniger Material vor als für die
Fassade. Es scheint auch in Hamburg an Grund-
rißaufnahmen alter Häuser zu fehlen. Im Prinzip
ist die Disposition der Räume auf den schmalen,
tiefen Grundstücken die gleiche wie in anderen
norddeutschen Handelsstädten von Bremen bis
Danzig: ein Vorderhaus mit Diele und Wohn-
zimmern durch einen am Hof liegenden Arm vom
Hinterhaus getrennt, das als Speicher diente. Die
aus dem niederdeutschen Bauernhaus her-
stammende Diele, die fast ein Drittel der ge-
samten Grundfläche einnimmt, hat sich seit dem
17. Jahrhundert über den bloßen Nutzwert für
den Geschäftsverkehr hinaus zu einem Empfangs-
und Gesellschaftsraum entwickelt, der mit seinen
überraschenden Abmessungen, dem hellen, von
Straße und Hof hergeführten Licht, der breiten
Treppe und reichen Stuckdekoration den bürger-
lichen Stolz der hanseatischen Patrizier ebenso
würdevoll repräsentiert wie der Saal eines Adels-
palastes.
Eingeleitet wird das Buch durch instruktive
Mitteilungen über mittelalterliche Baumaterialien
und staatliches Bauwesen in Alt-Hamburg. Den
Beschluß macht eine Führung durch die Gänge
und Höfe der Altstadt. Diese malerischen Gassen
sind der einzige Ort, wo der Reisende sich heute
zwischen der Vergangenheit noch leibhaft er-
gehen kann, nachdem er sich am neuen Bahnhof
gefreut, an anderen modernen Gebäuden mög-
lichst vorbeigesehen und bei Cölln gefrühstückt
hat.
August Grisebach.
9
Deutsches Leben der Vergangenheit in
Bildern. Ein Atlas mit 1760 Nachbildungen
alter Kupfer und Holzschnitte aus dem 15. bis
18. Jahrhundert. Mit Einführung von Dr. A.
Kienzle herausgegeben von Eugen Diede-
richs. Band I. Jena 1908.
Auch diejenigen unter den Nicht-Fachleuten,
die von alter deutscher Kunst mehr kennen als ein
paar Meisterwerke Dürers und Holbeins, be-
sitzen doch von alter deutscher Graphik meist
nur eine ganz vage Vorstellung, die selten über
eine Kenntnis der populären Dürerschen Holz-
schnittfolgen hinausgeht. Bei dem starken
gegenständlichen Interesse der Graphik, das
geeignet ist, ihr gerade die Gunst des Laien
schnell zu erwerben, liegt der Grund hierfür
gewiß in erster Linie an dem Mangel an ein-
schlägigem, wohlfeilem Reproduktionsmaterial.
Diesem Übelstand sucht der von Eugen Diede-
richs in Jena herausgegebene zweibändige Atlas
„Deutsches Leben der Vergangenheit in
Bildern" abzuhelfen, von dem der erste Band
soeben erschienen ist, der zweite im Frühjahr
dieses Jahres nadifolgen wird. Beide Bände
werden vereint ein Kompendium von nicht
weniger als 1760 Nachbildungen alter deutscher
Kupferstiche und Holzschnitte zu dem billigen
Preise von 27 M. broschiert (33 M. geb.) um-
fassen. Der Atlas stellt sich dar als eine Er-
gänzung zu den reich illustrierten „Mono-
graphien zur deutschen Kulturgeschichte", die
Professor Dr. Georg Steinhausen in gleichem
Verlage vor einigen Jahren herausgab, ist aber
so angelegt, daß er auch selbständig benutzbar
ist. Eine Einleitung von Dr. A. Kienzle orien-
tiert in knappen Worten über die historische
Entwicklung und das Wesentliche der Tech-
niken. Im übrigen beschränkt sich die textliche
Beigabe zu den einzelnen Abbildungen auf
kurze Unterschriften mit Angabe des Verfassers,
der Technik, Provenienz, Datierung und Haupt-
literatur, wozu im Notfall einige wenige das
Sachliche erläuternde Worte kommen, die prak-
tischerweise nicht in einem Anhang, sondern
unter dem dazugehörigen Bilde stehen. An
Äußerlichkeiten der Einrichtung ließe sich nur
aussetzen, daß die Querblätter auf den rechten
und linken Seiten nicht nach derselben Richtung
angeordnet sind, wodurch das lästige zwei-
malige Herumdrehen des schweren Buches ver-
mieden wäre.
Der Atlas will nicht eine vollständige Ge-
schichte des deutschen Kupferstiches und Holz-
schnittes in Bildern geben, sondern beschränkt
sich auf Schilderungen aus dem geselligen
Leben und Treiben, bringt dazu nur Bilder, die
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Nirgends führte der Weg direkter darauf los als
hier. Die Leistungen beweisen allerdings neben
den Werken der Sonninschen Zeit einen trau-
rigen Niedergang. Das Auge reagierte nicht
mehr wie im 18. Jahrhundert auf das leise Vor-
und Zurücktreten der Flächen. Man gibt das
Risalit auf, ebenso die Stockwerkbänder und
Fensterfelder. Eine philiströse Nüchternheit glättet
die Fassade zu einem Brett mit so und so viel
Löchern. Zum Teil hängt das mit dem Auf-
kommen der Mietshäuser zusammen, über deren
großes Format man nicht Herr werden konnte. —
Aus der Periode der „historischen Stile", die
Melhop etwa bis 1860 verfolgt, hat das archi-
tektonische Gesicht Hamburgs keine wesentlich
individuellen Züge gewonnen.
In einem besonderen Kapitel wird das Innere
des alten hamburgischen Kaufmannshauses behan-
delt. Hierfür liegt weniger Material vor als für die
Fassade. Es scheint auch in Hamburg an Grund-
rißaufnahmen alter Häuser zu fehlen. Im Prinzip
ist die Disposition der Räume auf den schmalen,
tiefen Grundstücken die gleiche wie in anderen
norddeutschen Handelsstädten von Bremen bis
Danzig: ein Vorderhaus mit Diele und Wohn-
zimmern durch einen am Hof liegenden Arm vom
Hinterhaus getrennt, das als Speicher diente. Die
aus dem niederdeutschen Bauernhaus her-
stammende Diele, die fast ein Drittel der ge-
samten Grundfläche einnimmt, hat sich seit dem
17. Jahrhundert über den bloßen Nutzwert für
den Geschäftsverkehr hinaus zu einem Empfangs-
und Gesellschaftsraum entwickelt, der mit seinen
überraschenden Abmessungen, dem hellen, von
Straße und Hof hergeführten Licht, der breiten
Treppe und reichen Stuckdekoration den bürger-
lichen Stolz der hanseatischen Patrizier ebenso
würdevoll repräsentiert wie der Saal eines Adels-
palastes.
Eingeleitet wird das Buch durch instruktive
Mitteilungen über mittelalterliche Baumaterialien
und staatliches Bauwesen in Alt-Hamburg. Den
Beschluß macht eine Führung durch die Gänge
und Höfe der Altstadt. Diese malerischen Gassen
sind der einzige Ort, wo der Reisende sich heute
zwischen der Vergangenheit noch leibhaft er-
gehen kann, nachdem er sich am neuen Bahnhof
gefreut, an anderen modernen Gebäuden mög-
lichst vorbeigesehen und bei Cölln gefrühstückt
hat.
August Grisebach.
9
Deutsches Leben der Vergangenheit in
Bildern. Ein Atlas mit 1760 Nachbildungen
alter Kupfer und Holzschnitte aus dem 15. bis
18. Jahrhundert. Mit Einführung von Dr. A.
Kienzle herausgegeben von Eugen Diede-
richs. Band I. Jena 1908.
Auch diejenigen unter den Nicht-Fachleuten,
die von alter deutscher Kunst mehr kennen als ein
paar Meisterwerke Dürers und Holbeins, be-
sitzen doch von alter deutscher Graphik meist
nur eine ganz vage Vorstellung, die selten über
eine Kenntnis der populären Dürerschen Holz-
schnittfolgen hinausgeht. Bei dem starken
gegenständlichen Interesse der Graphik, das
geeignet ist, ihr gerade die Gunst des Laien
schnell zu erwerben, liegt der Grund hierfür
gewiß in erster Linie an dem Mangel an ein-
schlägigem, wohlfeilem Reproduktionsmaterial.
Diesem Übelstand sucht der von Eugen Diede-
richs in Jena herausgegebene zweibändige Atlas
„Deutsches Leben der Vergangenheit in
Bildern" abzuhelfen, von dem der erste Band
soeben erschienen ist, der zweite im Frühjahr
dieses Jahres nadifolgen wird. Beide Bände
werden vereint ein Kompendium von nicht
weniger als 1760 Nachbildungen alter deutscher
Kupferstiche und Holzschnitte zu dem billigen
Preise von 27 M. broschiert (33 M. geb.) um-
fassen. Der Atlas stellt sich dar als eine Er-
gänzung zu den reich illustrierten „Mono-
graphien zur deutschen Kulturgeschichte", die
Professor Dr. Georg Steinhausen in gleichem
Verlage vor einigen Jahren herausgab, ist aber
so angelegt, daß er auch selbständig benutzbar
ist. Eine Einleitung von Dr. A. Kienzle orien-
tiert in knappen Worten über die historische
Entwicklung und das Wesentliche der Tech-
niken. Im übrigen beschränkt sich die textliche
Beigabe zu den einzelnen Abbildungen auf
kurze Unterschriften mit Angabe des Verfassers,
der Technik, Provenienz, Datierung und Haupt-
literatur, wozu im Notfall einige wenige das
Sachliche erläuternde Worte kommen, die prak-
tischerweise nicht in einem Anhang, sondern
unter dem dazugehörigen Bilde stehen. An
Äußerlichkeiten der Einrichtung ließe sich nur
aussetzen, daß die Querblätter auf den rechten
und linken Seiten nicht nach derselben Richtung
angeordnet sind, wodurch das lästige zwei-
malige Herumdrehen des schweren Buches ver-
mieden wäre.
Der Atlas will nicht eine vollständige Ge-
schichte des deutschen Kupferstiches und Holz-
schnittes in Bildern geben, sondern beschränkt
sich auf Schilderungen aus dem geselligen
Leben und Treiben, bringt dazu nur Bilder, die