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Monatshefte für Kunstwissenschaft
heit zurückgreifenden Schöpfungen — und sie sind ebenso Schöpfungen wie die in die
Zukunft vorgreifenden — liegt eine Sehnsucht zugrunde, die die eigentliche Seele
oder der Wille zur Kunst ist. Sie benützt das längst Gefundene weil es ihre Absicht
klarer ausdrückt als die Form der Gegenwart. Die Form ist ihr nur ein unzulängliches
Mittel für den Begriff. Sie weitet sich im Gefühl von Glück und Erlösung, wenn
der Geist vergangener Epochen diesen Wunsch weckt und zum Selbstbewusstsein klärt.
Es ist ein seelischer Prozeß, nicht ein technischer. Es handelt sich dabei nicht um eine
Metamorphose des Stils, sondern um ein Wiedererwachen eingeschlummerter Vor-
stellungen. Von solchen Ahnungen wurde gewiß der mittelalterliche Baumeister in der
Mönchskutte berührt, und es ist ein lustiges Schauspiel, daß der gute Christ und tapfere
Asket noch ein heidnisches Fleckchen in seinem Herzen besaß, wo ihn dieser Gedanke
treffen konnte. Dies Fleckchen war nicht das unfruchtbarste, noch das schlechteste in
ihm. Und es wäre betrübend, wenn unsere reizbare, oder wie man heute sagt, reiz-
same Psyche, nicht auch noch reaktionsfähig wäre für solche unsterblichen Kräfte.
Deswegen haben wir aufzuschauen, und in dem mittelalterlichen Dunkel der hehren
Kirche die Spuren jenes Sinnes aufzuspüren, der sich im grauen Altertum die Werke
seines Willens auferbaute und der seitdem durch alle Geschichte hindurch das Auge
magisch anzieht und zur Bewunderung zwingt und immer wieder die begabtesten
Hände in seine Dienste zieht. Was ist der Geist des Altertums in der Mönchskirche?
Es ist der Glaube an die geistgebornen Fähigkeiten des Menschen, die über den Tod
hinaus reden und zeugen; nicht für das Kreuz noch für irgend ein anderes Symbol,
sondern für die Einigkeit des Menschen mit dem unerschaffenen Geiste.
In den Frühstunden eines regnerischen Morgens waren wir in Pontigny. Da
standen wir nun vor der mächtigen Abteikirche, der wir uns wie aus dem Hinterhalte
genähert hatten, so daß wir beinahe überrascht vor sie hintraten. Vezelay lag auf der
Höhe, ebenso Autun und Paray-le-Monial. Pontigny aber liegt im Tale. Durch einen
prachtvollen Bestand von rauschenden Erlen gewannen wir den ersten Ausblick auf
den hochragenden Kirchenkörper des steilen Hochschiffes. Der Himmel war verhängt,
ein trübes Grau drückte die Stimmung. Um den kahlen Bau, dem Turm und Fassade
fehlen, wehte es wehmütig. Als ob ihm in Kriegsläuften alle Zier geraubt sei, stand
er einsam, inmitten niedriger Scheunen und Nutzbauten. Er war verlassen. Je mehr
wir uns näherten, desto mehr verstärkte sich der Eindruck von etwas Nacktem und
Unfertigen. Die großen Abmessungen des Bauwerks standen im Widerspruch zu den
knapp gehaltenen Ausdrucksformen. Alle tektonischen Glieder entbehrten der ver-
geistigten und künstlerischen Durchbildung. Schwere Mauermassen, enge Fenster, ein
hohes und lastendes Dach. Etwas konstruktiv Karges, bis auf die äußerste Grenze des
Möglichen getrieben, war von allen Mauern abzulesen. Die Streben waren nodi
nirgends so deutliche Stützensurrogate, ein Notbehelf für eine Kunstform. Ein phan-
tasieloser Rechenkopf war hier am Werke gewesen. Gab es schon im Mittelalter Bau-
bureaux, in denen jeder Heller für gefälligen Schmuck vom Budget abgestrichen wurde?
War diese fabrica ecclesiae von Künstlern geleitet, oder von einem Prototyp unserer
modernen Fabrikherren?
Das Innere war nichts als eine leere Halle. Weiße kahle Mauern, helle Glas-
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heit zurückgreifenden Schöpfungen — und sie sind ebenso Schöpfungen wie die in die
Zukunft vorgreifenden — liegt eine Sehnsucht zugrunde, die die eigentliche Seele
oder der Wille zur Kunst ist. Sie benützt das längst Gefundene weil es ihre Absicht
klarer ausdrückt als die Form der Gegenwart. Die Form ist ihr nur ein unzulängliches
Mittel für den Begriff. Sie weitet sich im Gefühl von Glück und Erlösung, wenn
der Geist vergangener Epochen diesen Wunsch weckt und zum Selbstbewusstsein klärt.
Es ist ein seelischer Prozeß, nicht ein technischer. Es handelt sich dabei nicht um eine
Metamorphose des Stils, sondern um ein Wiedererwachen eingeschlummerter Vor-
stellungen. Von solchen Ahnungen wurde gewiß der mittelalterliche Baumeister in der
Mönchskutte berührt, und es ist ein lustiges Schauspiel, daß der gute Christ und tapfere
Asket noch ein heidnisches Fleckchen in seinem Herzen besaß, wo ihn dieser Gedanke
treffen konnte. Dies Fleckchen war nicht das unfruchtbarste, noch das schlechteste in
ihm. Und es wäre betrübend, wenn unsere reizbare, oder wie man heute sagt, reiz-
same Psyche, nicht auch noch reaktionsfähig wäre für solche unsterblichen Kräfte.
Deswegen haben wir aufzuschauen, und in dem mittelalterlichen Dunkel der hehren
Kirche die Spuren jenes Sinnes aufzuspüren, der sich im grauen Altertum die Werke
seines Willens auferbaute und der seitdem durch alle Geschichte hindurch das Auge
magisch anzieht und zur Bewunderung zwingt und immer wieder die begabtesten
Hände in seine Dienste zieht. Was ist der Geist des Altertums in der Mönchskirche?
Es ist der Glaube an die geistgebornen Fähigkeiten des Menschen, die über den Tod
hinaus reden und zeugen; nicht für das Kreuz noch für irgend ein anderes Symbol,
sondern für die Einigkeit des Menschen mit dem unerschaffenen Geiste.
In den Frühstunden eines regnerischen Morgens waren wir in Pontigny. Da
standen wir nun vor der mächtigen Abteikirche, der wir uns wie aus dem Hinterhalte
genähert hatten, so daß wir beinahe überrascht vor sie hintraten. Vezelay lag auf der
Höhe, ebenso Autun und Paray-le-Monial. Pontigny aber liegt im Tale. Durch einen
prachtvollen Bestand von rauschenden Erlen gewannen wir den ersten Ausblick auf
den hochragenden Kirchenkörper des steilen Hochschiffes. Der Himmel war verhängt,
ein trübes Grau drückte die Stimmung. Um den kahlen Bau, dem Turm und Fassade
fehlen, wehte es wehmütig. Als ob ihm in Kriegsläuften alle Zier geraubt sei, stand
er einsam, inmitten niedriger Scheunen und Nutzbauten. Er war verlassen. Je mehr
wir uns näherten, desto mehr verstärkte sich der Eindruck von etwas Nacktem und
Unfertigen. Die großen Abmessungen des Bauwerks standen im Widerspruch zu den
knapp gehaltenen Ausdrucksformen. Alle tektonischen Glieder entbehrten der ver-
geistigten und künstlerischen Durchbildung. Schwere Mauermassen, enge Fenster, ein
hohes und lastendes Dach. Etwas konstruktiv Karges, bis auf die äußerste Grenze des
Möglichen getrieben, war von allen Mauern abzulesen. Die Streben waren nodi
nirgends so deutliche Stützensurrogate, ein Notbehelf für eine Kunstform. Ein phan-
tasieloser Rechenkopf war hier am Werke gewesen. Gab es schon im Mittelalter Bau-
bureaux, in denen jeder Heller für gefälligen Schmuck vom Budget abgestrichen wurde?
War diese fabrica ecclesiae von Künstlern geleitet, oder von einem Prototyp unserer
modernen Fabrikherren?
Das Innere war nichts als eine leere Halle. Weiße kahle Mauern, helle Glas-