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Monatshefte für Kunstwissenschaft
deren Ausgrabung und Erforschung so abge-
schlossen ist, daß neuer Zuwachs an Material
nicht mehr zu erwarten steht", und die deshalb
der Kenntnis interessierter Kreise nicht unnötig
vorenthalten, vielmehr auf dem geschilderten
Wege möglichst rasch der wissenschaftlichen
Verwertung zugänglich gemacht werden sollen.
Nachdem im 1. Heft eine Karte der milesischen
Halbinsel vorgelegt war, wird in dem eben
ausgegeben 2. Hefte zum ersten Male über eines
der aufgedeckten monumentalen Bauwerke, das
MILET: Gesamtansicht des Rathauses
Rathaus von Milet, berichtet, ein besonders
wichtiges Denkmal, insofern es unsere so lücken-
hafte Kenntnis der griechischen Profanarchitek-
tur bereichert, noch dazu für jene Periode der
griechischen Kunstentwickelung, die der Auf-
hellung so besonders bedürftig ist, der helleni-
stischen. Denn der Bau läßt sich genau datieren
auf Grund der doppelt angebrachten und in
Fragmenten aufgefundenenWeihinschrift, die be-
sagt, daß Timarchos und Herakleides ihn für
König Antiochos (IV.) Epiphanes errichteten:
das ergibt die Jahre zwischen 175 und 164 v. Chr.,
also die Blütezeit des Hellenismus.
Trotz weitgehender Zerstörung hat sich die
Anlage mit annähernder Sicherheit rekonstruieren
lassen, eine Aufgabe, der sich Hubert Knackfuß
mit Glück und Geschick unterzogen hat. Dem
eigentlichen Sitzungshaus ist ein weiter Hof
vorgelagert, von Säulenhallen umgeben, die an
der Schmalseite von einem überhöhten vier-
säuligen Propylon durchbrochen werden. Die
Säulenform der Umgangshallen hat sich nicht
feststellen lassen, das Propylon war korinthi-
scher Version, mit einem Akanthos von eigen-
tümlich scharfer, kantiger Zeichnung und flächi-
ger Wirkung, dessen Einzelformen mehr durch
Stechen und Bohren in die Tiefe gewonnen
sind im Gegensatz zu der räumlich plastischen
Modellierung des Blattes, wie sie schon am
Kapitell von Epidauros auftritt und in höchster
Steigerung das römisch-korinthische Kapitell
charakterisiert. Die technische Behandlung des
milesischen Kapitells scheint mir durchaus (nach
den Abbildungen zu schließen) wesensverwandt
derjenigen, die auch am Waffenfries des Torbaus
auftritt und deren Eigenart von Winnefeld mit
Recht hervorgehoben wird: eine Anlage der
Formen in der Fläche und ein Herausarbeiten
durch Auschneiden der Ränder und Tiefen-
bohrung. Es ist abzuwarten, ob diese Erschei-
nung am milesischen Bau vereinzelt bleibt, oder
ob künftige Entdeckungen sie noch an anderen
hellenistischen Denkmälern Kleinasiens oder
Syriens nachweisen werden. Wie sie sich jetzt
darstellt, scheint sie den Anfang jener Richtung
zu bezeichnen, die in der byzantinischen Kunst
vollendete Tatsache ist, jenes Stiles, den Strzy-
gowski aus einem Wiedererwachen und Er-
starken nationaler Elemente des Orients ab-
leiten will, die den Hellenismus, der einst Asien
erobert hatte, wieder zurückdrängen und ab-
werfen. Zeigen sich aber die Urelemente dieses
Stiles an einem Bau aus der Blütezeit des
Hellenismus, und lassen sich die hier ange-
stellten Beobachtungen künftig erweitern und
verallgemeinern, so ergeben sich daraus Folge-
rungen von so weittragender Bedeutung im
Umkreise der von Strzygowski aufgeworfenen
Fragen, daß es geboten erschien, auf diesen
Punkt recht fest den Finger zu legen.
Der eigentliche Sitzungsbau in Milet ist in
seiner Anlage und seinen Abmessungen be-
stimmt dadurch, daß es galt, einen isoliert
stehenden Felskegel, in dem die Sitzbänke nach
Art eines kleinen Theaters ausgehöhlt wurden,
zu ummanteln. Dieser feste, massive Mantelbau
bildet ein Untergeschoß mit geschlossenen
Quaderwänden, abgeschlossen durch ein Gurt-
gesims, über dem sich ein zweites, von Fenstern
durchbrochenes, mit vorgeblendeten Halbsäulen
dekoriertes Stockwerk erhebt, das ganze über-
deckt durch ein Satteldach mit Giebeln über den
Schmalseiten. Die Existenz der Fenster ist an
zwei Seiten durch Fundstücke gesichert, für die
beiden anderen aus der Notwendigkeit genü-
gender Lichtzufuhr für den großen Raum wohl
mit Sicherheit zu erschließen.
Im Innern wird das Untergeschoß einge-
nommen durch die annähernd im Halbkreis an-
geordneten, hinter einem in ganzer Breite des
Gebäudes vorgelagerten Vorflur ansteigenden
Sitzbänke, die in der Rekonstruktion so hoch
hinauf geführt sind, daß an der Kurve derobersten
Monatshefte für Kunstwissenschaft
deren Ausgrabung und Erforschung so abge-
schlossen ist, daß neuer Zuwachs an Material
nicht mehr zu erwarten steht", und die deshalb
der Kenntnis interessierter Kreise nicht unnötig
vorenthalten, vielmehr auf dem geschilderten
Wege möglichst rasch der wissenschaftlichen
Verwertung zugänglich gemacht werden sollen.
Nachdem im 1. Heft eine Karte der milesischen
Halbinsel vorgelegt war, wird in dem eben
ausgegeben 2. Hefte zum ersten Male über eines
der aufgedeckten monumentalen Bauwerke, das
MILET: Gesamtansicht des Rathauses
Rathaus von Milet, berichtet, ein besonders
wichtiges Denkmal, insofern es unsere so lücken-
hafte Kenntnis der griechischen Profanarchitek-
tur bereichert, noch dazu für jene Periode der
griechischen Kunstentwickelung, die der Auf-
hellung so besonders bedürftig ist, der helleni-
stischen. Denn der Bau läßt sich genau datieren
auf Grund der doppelt angebrachten und in
Fragmenten aufgefundenenWeihinschrift, die be-
sagt, daß Timarchos und Herakleides ihn für
König Antiochos (IV.) Epiphanes errichteten:
das ergibt die Jahre zwischen 175 und 164 v. Chr.,
also die Blütezeit des Hellenismus.
Trotz weitgehender Zerstörung hat sich die
Anlage mit annähernder Sicherheit rekonstruieren
lassen, eine Aufgabe, der sich Hubert Knackfuß
mit Glück und Geschick unterzogen hat. Dem
eigentlichen Sitzungshaus ist ein weiter Hof
vorgelagert, von Säulenhallen umgeben, die an
der Schmalseite von einem überhöhten vier-
säuligen Propylon durchbrochen werden. Die
Säulenform der Umgangshallen hat sich nicht
feststellen lassen, das Propylon war korinthi-
scher Version, mit einem Akanthos von eigen-
tümlich scharfer, kantiger Zeichnung und flächi-
ger Wirkung, dessen Einzelformen mehr durch
Stechen und Bohren in die Tiefe gewonnen
sind im Gegensatz zu der räumlich plastischen
Modellierung des Blattes, wie sie schon am
Kapitell von Epidauros auftritt und in höchster
Steigerung das römisch-korinthische Kapitell
charakterisiert. Die technische Behandlung des
milesischen Kapitells scheint mir durchaus (nach
den Abbildungen zu schließen) wesensverwandt
derjenigen, die auch am Waffenfries des Torbaus
auftritt und deren Eigenart von Winnefeld mit
Recht hervorgehoben wird: eine Anlage der
Formen in der Fläche und ein Herausarbeiten
durch Auschneiden der Ränder und Tiefen-
bohrung. Es ist abzuwarten, ob diese Erschei-
nung am milesischen Bau vereinzelt bleibt, oder
ob künftige Entdeckungen sie noch an anderen
hellenistischen Denkmälern Kleinasiens oder
Syriens nachweisen werden. Wie sie sich jetzt
darstellt, scheint sie den Anfang jener Richtung
zu bezeichnen, die in der byzantinischen Kunst
vollendete Tatsache ist, jenes Stiles, den Strzy-
gowski aus einem Wiedererwachen und Er-
starken nationaler Elemente des Orients ab-
leiten will, die den Hellenismus, der einst Asien
erobert hatte, wieder zurückdrängen und ab-
werfen. Zeigen sich aber die Urelemente dieses
Stiles an einem Bau aus der Blütezeit des
Hellenismus, und lassen sich die hier ange-
stellten Beobachtungen künftig erweitern und
verallgemeinern, so ergeben sich daraus Folge-
rungen von so weittragender Bedeutung im
Umkreise der von Strzygowski aufgeworfenen
Fragen, daß es geboten erschien, auf diesen
Punkt recht fest den Finger zu legen.
Der eigentliche Sitzungsbau in Milet ist in
seiner Anlage und seinen Abmessungen be-
stimmt dadurch, daß es galt, einen isoliert
stehenden Felskegel, in dem die Sitzbänke nach
Art eines kleinen Theaters ausgehöhlt wurden,
zu ummanteln. Dieser feste, massive Mantelbau
bildet ein Untergeschoß mit geschlossenen
Quaderwänden, abgeschlossen durch ein Gurt-
gesims, über dem sich ein zweites, von Fenstern
durchbrochenes, mit vorgeblendeten Halbsäulen
dekoriertes Stockwerk erhebt, das ganze über-
deckt durch ein Satteldach mit Giebeln über den
Schmalseiten. Die Existenz der Fenster ist an
zwei Seiten durch Fundstücke gesichert, für die
beiden anderen aus der Notwendigkeit genü-
gender Lichtzufuhr für den großen Raum wohl
mit Sicherheit zu erschließen.
Im Innern wird das Untergeschoß einge-
nommen durch die annähernd im Halbkreis an-
geordneten, hinter einem in ganzer Breite des
Gebäudes vorgelagerten Vorflur ansteigenden
Sitzbänke, die in der Rekonstruktion so hoch
hinauf geführt sind, daß an der Kurve derobersten