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Monatshefte für Kunstwissenschaft
Verfasser auf Seite 73 f. tut, hat nicht das Recht,
über den weit größeren Carpeaux geringschätzig
zu urteilen und seine Tanzgruppe an der Pariser
Oper mit den Worten abzutun: „Diese über-
triebenen Gesten, gestikulierenden Arme und
Beine, widerstreben der festen Gebundenheit
in Stein. Ja, wenn die Steine tanzen könnten!"
— Idi meine, wer vor dieser Gruppe nicht spürt,
daß unter Umständen auch die Steine tanzen
können, wenn nur wirklich ein Orpheus kommt,
der sie zu bewegen weiß — dem ist nicht zu
helfen.
Am schlimmsten kommt Rodin weg, dessen
Kunst dem Verfasser völlig ein Buch mit sieben
Siegeln geblieben zu sein scheint, obgleich der
Künstler doch nicht erst im Jahre 1907 an die
Öffentlichkeit getreten ist. Was er über ihn
schreibt, könnte aus der Feder des Licentiaten
Bohn stammen: „Dem einen ist das Weib die
hohe hehre Göttin auf dem Altar seiner Kunst,
dem andern eine Phryne, die ihm ihre Reize
preisgibt. Der Marmor wird nur dazu gebraucht,
um die Reize des blühenden Fleisches zu ver-
herrlichen. Das Interesse an der Wiedergabe
animalischen Lebens läßt den Künstler oft die
Aufgaben seiner Kunst in den geschmacklosesten
Dingen suchen." Und dann in gesperrtem Drucke
das endgiltige Verdammungsurteil: „Unter dem
dominierenden Einfluß des weiblichen
Aktes ist die französische Plastik selbst
feminin geworden." Nach diesen sitten-
strengen Worten ist man dann sehr überrascht,
zu lesen, daß für den Verfasser der Hauptreiz
der Kuß-Gruppe Rodins im Luxembourg auf
dem Kontrast des rauhen männlichen Körpers
mit der „molligen Weichheit" des weiblichen
beruht.
Dem Eingeweihten schaden solche Sätze
nichts; dagegen bleibt zu bedenken, daß sie
von Tausenden von Uneingeweihten gelesen
werden, die zu dem Büchlein greifen, schon
deswegen, weil es in einer Sammlung erschienen
ist, die sich auf andern Wissensgebieten die
größten Verdienste um Verbreitung der Bildung
in den weitesten Kreisen unseres Volkes erwor-
ben hat. Grade weil wir in Deutschland auf dem
Arbeitsgebiet der Erziehung zum künstlerischen
Sehen noch keineswegs Ursache haben, dieHände
in den Schoß zu legen, sondern weil jeder Tag uns
lehrt, wieviel hier noch zu tun ist, muß mit solchen
auf einen unbegrenzten Leserkreis berechneten
Publikationen weit strenger ins Gericht gegangen
werden, als mit irgend einer minderwertigen
fachwissenschaftlichen Arbeit, deren Mängel
.sich nur an dem Autor selber rächen. Es ist
bekannt genug, welches Unheil die in der gleichen
Sammlung erschienenen Bändchen über die
Geschichte der Malerei aus der Feder eines
geistreichen, aber leider grade bei dem Laien-
publikum allzubeliebten kunsthistorischen Feuille-
tonisten anrichten. Die ungeübten Augen, die
durch dieses Feuerwerk einmal geblendet sind,
lernen nie wieder sehen. Heilmeyers Buch
über Plastik ist weniger gefährlich, zumal
es über technisch sehr gut gelungene Abbil-
dungen und eine Einleitung verfügt, die auf der
Grundlage des „Problems der Form" einige all-
gemeine Gesichtspunkte und Betrachtungen über
die Entstehung plastischer Kunstwerke überhaupt
bietet. Bei den Neuauflagen, die bei den
Göschenbändchen sich sehr schnell zu folgen
pflegen, wäre es daher zu empfehlen, wenn der
Verfasser nach einer stillen Einkehr seine Arbeit
einer gründlichen Durchsicht unterzöge und mit
Ausmerzung seiner allzu persönlich gefärbten
Urteile sich darauf beschränkte, die im Bilder-
Apparat abgebildeten Kunstwerke nach histo-
rischen oder stilistischen Gesichtspunkten zu
ordnen und jedes Blatt einzeln seinem künstle-
rischen Gehalt nach seinem Publikum zu erklären.
Nur auf diese Weise können wirkliche Resultate
erzielt werden.
Edmund Hildebrandt.
Georg Graf Vitzthum, die Pariser Minia-
turmalerei (von der Zeit des hl. Ludwig bis
zu Philipp von Valois und ihr Verhältnis zur
Malerei in Nordwesteuropa). 80. IX u. 244 S.
50 Tafeln in Lichtdruck. Preis M. 18.—. 1907.
Verlag von Quelle u. Meyer in Leipzig.
Die Erzeugnisse der französischen Miniatur-
malerei von 1250 bis 1320 erscheinen dem ersten
Blick so gleichartig, daß er eine Wandlung der
Formen innerhalb dieser siebzig Jahre kaum
wahrnehmen kann. Man hat deshalb lange Zeit
die ganze Gruppe als eine in sich geschlossene
Einheit aufgefaßt; Paris hat man (wegen der
vielen urkundlich genannten Buchmaler) als das
Zentrum angesehen, von dem alles übrige mehr
oder weniger abhängig war. Erst Haseloff hat
vor kurzem (im 2. Bande von Michels Histoire
de l'Art 1906) begonnen, die Masse der wich-
tigsten Handschriften in Gruppen zu trennen,
insbesondere hat er auf die wechselseitigen Be-
ziehungen der nordfranzösisdien und englischen
Miniaturmalerei zuerst hingewiesen.
Die vorliegende Arbeit, deren Grundlagen
vor dem Erscheinen der Haseloffschen Unter-
suchungen bereits feststanden, geht, wenn sie
gleich im Großen zu gleichen Resultaten, wie
Haseloff, kommt, im Einzelnen doch weit da-
Monatshefte für Kunstwissenschaft
Verfasser auf Seite 73 f. tut, hat nicht das Recht,
über den weit größeren Carpeaux geringschätzig
zu urteilen und seine Tanzgruppe an der Pariser
Oper mit den Worten abzutun: „Diese über-
triebenen Gesten, gestikulierenden Arme und
Beine, widerstreben der festen Gebundenheit
in Stein. Ja, wenn die Steine tanzen könnten!"
— Idi meine, wer vor dieser Gruppe nicht spürt,
daß unter Umständen auch die Steine tanzen
können, wenn nur wirklich ein Orpheus kommt,
der sie zu bewegen weiß — dem ist nicht zu
helfen.
Am schlimmsten kommt Rodin weg, dessen
Kunst dem Verfasser völlig ein Buch mit sieben
Siegeln geblieben zu sein scheint, obgleich der
Künstler doch nicht erst im Jahre 1907 an die
Öffentlichkeit getreten ist. Was er über ihn
schreibt, könnte aus der Feder des Licentiaten
Bohn stammen: „Dem einen ist das Weib die
hohe hehre Göttin auf dem Altar seiner Kunst,
dem andern eine Phryne, die ihm ihre Reize
preisgibt. Der Marmor wird nur dazu gebraucht,
um die Reize des blühenden Fleisches zu ver-
herrlichen. Das Interesse an der Wiedergabe
animalischen Lebens läßt den Künstler oft die
Aufgaben seiner Kunst in den geschmacklosesten
Dingen suchen." Und dann in gesperrtem Drucke
das endgiltige Verdammungsurteil: „Unter dem
dominierenden Einfluß des weiblichen
Aktes ist die französische Plastik selbst
feminin geworden." Nach diesen sitten-
strengen Worten ist man dann sehr überrascht,
zu lesen, daß für den Verfasser der Hauptreiz
der Kuß-Gruppe Rodins im Luxembourg auf
dem Kontrast des rauhen männlichen Körpers
mit der „molligen Weichheit" des weiblichen
beruht.
Dem Eingeweihten schaden solche Sätze
nichts; dagegen bleibt zu bedenken, daß sie
von Tausenden von Uneingeweihten gelesen
werden, die zu dem Büchlein greifen, schon
deswegen, weil es in einer Sammlung erschienen
ist, die sich auf andern Wissensgebieten die
größten Verdienste um Verbreitung der Bildung
in den weitesten Kreisen unseres Volkes erwor-
ben hat. Grade weil wir in Deutschland auf dem
Arbeitsgebiet der Erziehung zum künstlerischen
Sehen noch keineswegs Ursache haben, dieHände
in den Schoß zu legen, sondern weil jeder Tag uns
lehrt, wieviel hier noch zu tun ist, muß mit solchen
auf einen unbegrenzten Leserkreis berechneten
Publikationen weit strenger ins Gericht gegangen
werden, als mit irgend einer minderwertigen
fachwissenschaftlichen Arbeit, deren Mängel
.sich nur an dem Autor selber rächen. Es ist
bekannt genug, welches Unheil die in der gleichen
Sammlung erschienenen Bändchen über die
Geschichte der Malerei aus der Feder eines
geistreichen, aber leider grade bei dem Laien-
publikum allzubeliebten kunsthistorischen Feuille-
tonisten anrichten. Die ungeübten Augen, die
durch dieses Feuerwerk einmal geblendet sind,
lernen nie wieder sehen. Heilmeyers Buch
über Plastik ist weniger gefährlich, zumal
es über technisch sehr gut gelungene Abbil-
dungen und eine Einleitung verfügt, die auf der
Grundlage des „Problems der Form" einige all-
gemeine Gesichtspunkte und Betrachtungen über
die Entstehung plastischer Kunstwerke überhaupt
bietet. Bei den Neuauflagen, die bei den
Göschenbändchen sich sehr schnell zu folgen
pflegen, wäre es daher zu empfehlen, wenn der
Verfasser nach einer stillen Einkehr seine Arbeit
einer gründlichen Durchsicht unterzöge und mit
Ausmerzung seiner allzu persönlich gefärbten
Urteile sich darauf beschränkte, die im Bilder-
Apparat abgebildeten Kunstwerke nach histo-
rischen oder stilistischen Gesichtspunkten zu
ordnen und jedes Blatt einzeln seinem künstle-
rischen Gehalt nach seinem Publikum zu erklären.
Nur auf diese Weise können wirkliche Resultate
erzielt werden.
Edmund Hildebrandt.
Georg Graf Vitzthum, die Pariser Minia-
turmalerei (von der Zeit des hl. Ludwig bis
zu Philipp von Valois und ihr Verhältnis zur
Malerei in Nordwesteuropa). 80. IX u. 244 S.
50 Tafeln in Lichtdruck. Preis M. 18.—. 1907.
Verlag von Quelle u. Meyer in Leipzig.
Die Erzeugnisse der französischen Miniatur-
malerei von 1250 bis 1320 erscheinen dem ersten
Blick so gleichartig, daß er eine Wandlung der
Formen innerhalb dieser siebzig Jahre kaum
wahrnehmen kann. Man hat deshalb lange Zeit
die ganze Gruppe als eine in sich geschlossene
Einheit aufgefaßt; Paris hat man (wegen der
vielen urkundlich genannten Buchmaler) als das
Zentrum angesehen, von dem alles übrige mehr
oder weniger abhängig war. Erst Haseloff hat
vor kurzem (im 2. Bande von Michels Histoire
de l'Art 1906) begonnen, die Masse der wich-
tigsten Handschriften in Gruppen zu trennen,
insbesondere hat er auf die wechselseitigen Be-
ziehungen der nordfranzösisdien und englischen
Miniaturmalerei zuerst hingewiesen.
Die vorliegende Arbeit, deren Grundlagen
vor dem Erscheinen der Haseloffschen Unter-
suchungen bereits feststanden, geht, wenn sie
gleich im Großen zu gleichen Resultaten, wie
Haseloff, kommt, im Einzelnen doch weit da-