386
Monatshefte für Kunstwissenschaft
Stellung ruhigen Seins und stillen Behagens versteht, die nicht nur im Vorwurf, son-
dern auch in der Auffassung an Dürers Madonna mit den vielen Tieren und ähnliche
Schöpfungen erinnert. Am auffallendsten kommt der Wechsel der Auffassung in der
landschaftlichen Szenerie zur Geltung. In Colmar entrollte er ganz, ohne daß die
Situation es erfordert oder auch nur angeregt hätte, als Hintergrund der Madonna
jenen Ausblick auf eine gewaltige Gebirgskette, die sich nach beiden Seiten hinter den
Nachbarbildern noch weit fortzusetzen scheint. In dreifacher Steigerung ist dann auch
noch der Eindruck der Höhe erzielt. Der Blick senkt sich hinter der Madonna erst in
die Tiefe, steigt dann hinauf zu einer Anhöhe, klettert an ungeheuren Felswänden
empor, an denen Tannen nur spärlich haften, über ihnen erst ballen sich die Wolken,
über denen wiederum weit, weit oben Gott Vater thront.
Solche Mittel der Steigerung sind in Stuppach aufgegeben, die Luft ist übermalt,
aber es ist nicht möglich, daß ähnliches erzielt oder erreicht war. Während der Hinter-
grund der Isenheimer Madonna auch eine gewaltige Steigerung der Szenerie bedeutet,
die der Maler damals um sich sah, so daß man vermuten sollte, das Bild sei nicht am
Fuße der Vogesen, sondern am Fuße der Alpen gemalt, so ist in Stuppach der friedlich
heitere Charakter einer Landschaft, wie sie sich im Taubergrund und anderswo noch oft
findet, mit einem leisen Stich ins Alltägliche geschildert, und doch hätte auch die Mergent-
heimer wie die Aschaffenburger Gegend großzügige Motive geboten.
Wie weit italienische Einflüsse auf Grünewald wohl bestimmend waren werde
ich in anderem Zusammenhang untersuchen. Ich finde sie schon in Colmar nicht nur
in architektonischen Einzelheiten, sondern auch in der Darstellung eines Menschen. Im
Kopf dieser Madonna kann ich einen solchen nicht erkennen. Der Typus scheint mir
zwar auffallend für Grünewald aber eher deutscher als der frühere zu sein.
Allein das Bild ist trotzdem das Symptom einer neuen Zeit und als solches
historisch besonders wertvoll. Denn es erscheint der Sinn für das Wildromantische,
der am Ende der neunziger Jahre in der oberdeutschen Kunst plötzlich aufflammte,
und alle mitriß, erloschen bei dem Künstler, dessen Werke für jene Zeitströmung vor
allen andern charakteristisch waren.
Monatshefte für Kunstwissenschaft
Stellung ruhigen Seins und stillen Behagens versteht, die nicht nur im Vorwurf, son-
dern auch in der Auffassung an Dürers Madonna mit den vielen Tieren und ähnliche
Schöpfungen erinnert. Am auffallendsten kommt der Wechsel der Auffassung in der
landschaftlichen Szenerie zur Geltung. In Colmar entrollte er ganz, ohne daß die
Situation es erfordert oder auch nur angeregt hätte, als Hintergrund der Madonna
jenen Ausblick auf eine gewaltige Gebirgskette, die sich nach beiden Seiten hinter den
Nachbarbildern noch weit fortzusetzen scheint. In dreifacher Steigerung ist dann auch
noch der Eindruck der Höhe erzielt. Der Blick senkt sich hinter der Madonna erst in
die Tiefe, steigt dann hinauf zu einer Anhöhe, klettert an ungeheuren Felswänden
empor, an denen Tannen nur spärlich haften, über ihnen erst ballen sich die Wolken,
über denen wiederum weit, weit oben Gott Vater thront.
Solche Mittel der Steigerung sind in Stuppach aufgegeben, die Luft ist übermalt,
aber es ist nicht möglich, daß ähnliches erzielt oder erreicht war. Während der Hinter-
grund der Isenheimer Madonna auch eine gewaltige Steigerung der Szenerie bedeutet,
die der Maler damals um sich sah, so daß man vermuten sollte, das Bild sei nicht am
Fuße der Vogesen, sondern am Fuße der Alpen gemalt, so ist in Stuppach der friedlich
heitere Charakter einer Landschaft, wie sie sich im Taubergrund und anderswo noch oft
findet, mit einem leisen Stich ins Alltägliche geschildert, und doch hätte auch die Mergent-
heimer wie die Aschaffenburger Gegend großzügige Motive geboten.
Wie weit italienische Einflüsse auf Grünewald wohl bestimmend waren werde
ich in anderem Zusammenhang untersuchen. Ich finde sie schon in Colmar nicht nur
in architektonischen Einzelheiten, sondern auch in der Darstellung eines Menschen. Im
Kopf dieser Madonna kann ich einen solchen nicht erkennen. Der Typus scheint mir
zwar auffallend für Grünewald aber eher deutscher als der frühere zu sein.
Allein das Bild ist trotzdem das Symptom einer neuen Zeit und als solches
historisch besonders wertvoll. Denn es erscheint der Sinn für das Wildromantische,
der am Ende der neunziger Jahre in der oberdeutschen Kunst plötzlich aufflammte,
und alle mitriß, erloschen bei dem Künstler, dessen Werke für jene Zeitströmung vor
allen andern charakteristisch waren.