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Monatshefte für Kunstwissenschaft
in unseren bisherigen Beispielen der ersten Bestimmung hauptsächlich unsere Aufmerk-
samkeit zuzuwenden, so wird für eine andere Reihe von Bildern die zweite wesentlich
maßgebend. Oben finden wir die nahe gesehenen, im Maßstab größeren Figuren,
unten die fernen, kleineren. Eine Illustration aus der Nayotake-Erzählung9 (Meister
unbekannt, Anf. des XIV. Jahrh. Tosa-Schule) (Abb. 3) möge als Beispiel dienen.
Von oben her sehen wir in das Haus mit seinen Bewohnern, von da erst wandert
der Blick nach vorn und abwärts, wo an der Haustür die Frau den Ankommenden
empfängt. Der Innenraum selbst ist im wesentlichen dem zu Anfang betrachteten
gleich, aber das Blickfeld erweitert sich, wir sehen nicht das Zimmer nur, sondern
das ganze Haus, jedoch wieder von dem gleichen, idealen Standpunkt. So wie der
Japaner gewöhnt ist, zu schreiben und zu lesen, von oben nach unten, so soll der
Blick wandern. Daß hier wie in einer Reihe anderer Beispiele auch der Gedanke
einer Lateralperspektive, d. h. einer seitlichen Verkleinerung der Dinge von dem vor-
ausgesetzten Standort des Beschauers aus mitspielen mag, kann nebenbei erwähnt werden.
Wie wir unserem ersten Innenraumbilde eine entsprechende Darstellung des
Freiraumes folgen ließen, so verlassen wir auch hier wieder das Haus, und folgerichtig
müssen wir nun selbst in die Luft emporsteigen, um den weiteren Raum aus der Höhe
zu überschauen, wie hier das Haus mit seinen kleineren Abmessungen. So findet sich
in der Tat eine ganze Gruppe von Darstellungen der Gottheiten in den Lüften, mit
denen wir nun hoch emporgehoben werden, um weit unter uns in der Tiefe die be-
wohnte Erde zu lassen, die klein erscheint und in weiter Ferne. Ein Bild des Toba Sojo2)
(1053—1140) gibt eine der schönsten und geistreichsten Lösungen des Problems.
Daneben kommen ganze Reihen buddhistischer Heiligenbilder im gleichen Zusammenhang
in Betracht (Avalokitesvarabilder des Kakushü") (1649—1731) (Abb. 4—5). Mit den Augen
der Gottheit, die oben vom luftigen Wolkenthrone herabschaut, muß der Betrachter sehen,
sich selbst in sie hineinversetzt denken, um den Sinn der Darstellung zu erfassen.
Der Zusammenhang zwischen den aufeinander folgenden Beispielen unserer Reihe ist
auch hier unverkennbar. Wenn wir mit Avalokitesvara jetzt aus der Höhe hernieder-
schauen, so ist unser Standort kein anderer als sonst, wieder oben und in der Bild-
tiefe, und die Blickrichtung zielt nach abwärts und vorn.
Es ist nicht ohne Interesse, mit diesen japanischen Darstellungen des Gottes in
den Lüften die europäischen Formulierungen des gleichen Problems, das ja einer jeden
kirchlichen Kunst gestellt ist, zu vergleichen. Man wird da feststellen, daß im ganzen
erstaunlich lange die europäische Kunst sich darauf beschränkt, nur das Höhenmaß der
Bildfläche selbst für die Wiedergabe von Höhendifferenzen innerhalb der Darstellung
auszunutzen. Das obere bleibt mit dem unteren in der gleichen Raumschicht, und eine
9 Selected relics. VII, 22, 1.
2) Selected relics. Band VII, 15. Tafel 2. Die Reproduktion mußte leider aus technischen
Rücksichten unterbleiben.
, Selected relics. Band VII, 36. Tafel 1 und 2. Kokka, Heft 131, 3.
Bekanntlich leben neben den neu auftretenden, jüngeren auch die alten Kunstschulen in
Japan weiter fort, so daß in unserer prinzipiellen Untersuchung ein Künstler des 18. Jahrhunderts
unbedenklich neben den des zwölften gestellt werden kann.
Monatshefte für Kunstwissenschaft
in unseren bisherigen Beispielen der ersten Bestimmung hauptsächlich unsere Aufmerk-
samkeit zuzuwenden, so wird für eine andere Reihe von Bildern die zweite wesentlich
maßgebend. Oben finden wir die nahe gesehenen, im Maßstab größeren Figuren,
unten die fernen, kleineren. Eine Illustration aus der Nayotake-Erzählung9 (Meister
unbekannt, Anf. des XIV. Jahrh. Tosa-Schule) (Abb. 3) möge als Beispiel dienen.
Von oben her sehen wir in das Haus mit seinen Bewohnern, von da erst wandert
der Blick nach vorn und abwärts, wo an der Haustür die Frau den Ankommenden
empfängt. Der Innenraum selbst ist im wesentlichen dem zu Anfang betrachteten
gleich, aber das Blickfeld erweitert sich, wir sehen nicht das Zimmer nur, sondern
das ganze Haus, jedoch wieder von dem gleichen, idealen Standpunkt. So wie der
Japaner gewöhnt ist, zu schreiben und zu lesen, von oben nach unten, so soll der
Blick wandern. Daß hier wie in einer Reihe anderer Beispiele auch der Gedanke
einer Lateralperspektive, d. h. einer seitlichen Verkleinerung der Dinge von dem vor-
ausgesetzten Standort des Beschauers aus mitspielen mag, kann nebenbei erwähnt werden.
Wie wir unserem ersten Innenraumbilde eine entsprechende Darstellung des
Freiraumes folgen ließen, so verlassen wir auch hier wieder das Haus, und folgerichtig
müssen wir nun selbst in die Luft emporsteigen, um den weiteren Raum aus der Höhe
zu überschauen, wie hier das Haus mit seinen kleineren Abmessungen. So findet sich
in der Tat eine ganze Gruppe von Darstellungen der Gottheiten in den Lüften, mit
denen wir nun hoch emporgehoben werden, um weit unter uns in der Tiefe die be-
wohnte Erde zu lassen, die klein erscheint und in weiter Ferne. Ein Bild des Toba Sojo2)
(1053—1140) gibt eine der schönsten und geistreichsten Lösungen des Problems.
Daneben kommen ganze Reihen buddhistischer Heiligenbilder im gleichen Zusammenhang
in Betracht (Avalokitesvarabilder des Kakushü") (1649—1731) (Abb. 4—5). Mit den Augen
der Gottheit, die oben vom luftigen Wolkenthrone herabschaut, muß der Betrachter sehen,
sich selbst in sie hineinversetzt denken, um den Sinn der Darstellung zu erfassen.
Der Zusammenhang zwischen den aufeinander folgenden Beispielen unserer Reihe ist
auch hier unverkennbar. Wenn wir mit Avalokitesvara jetzt aus der Höhe hernieder-
schauen, so ist unser Standort kein anderer als sonst, wieder oben und in der Bild-
tiefe, und die Blickrichtung zielt nach abwärts und vorn.
Es ist nicht ohne Interesse, mit diesen japanischen Darstellungen des Gottes in
den Lüften die europäischen Formulierungen des gleichen Problems, das ja einer jeden
kirchlichen Kunst gestellt ist, zu vergleichen. Man wird da feststellen, daß im ganzen
erstaunlich lange die europäische Kunst sich darauf beschränkt, nur das Höhenmaß der
Bildfläche selbst für die Wiedergabe von Höhendifferenzen innerhalb der Darstellung
auszunutzen. Das obere bleibt mit dem unteren in der gleichen Raumschicht, und eine
9 Selected relics. VII, 22, 1.
2) Selected relics. Band VII, 15. Tafel 2. Die Reproduktion mußte leider aus technischen
Rücksichten unterbleiben.
, Selected relics. Band VII, 36. Tafel 1 und 2. Kokka, Heft 131, 3.
Bekanntlich leben neben den neu auftretenden, jüngeren auch die alten Kunstschulen in
Japan weiter fort, so daß in unserer prinzipiellen Untersuchung ein Künstler des 18. Jahrhunderts
unbedenklich neben den des zwölften gestellt werden kann.