Glaser. Die Raumdarstellung in der japanischen Malerei 413
Abb. 10. Szene aus dem Ise-Monogatori. Tosa-Schule. XIV. Jahrh.
Kokka 196, 5
Japan übertragen wurde. Daß die japanische Entwicklung nicht unabhängig von der
festländisch chinesischen sich vollzog, muß nach dem bisher zugänglichen Denk-
mälerbestand notwendig angenommen werden. In Japan läßt sich keine so hoch
hinaufreichende Entstehungsgeschichte verfolgen. Dagegen findet sich hier erst die
zweifellos sichere und bewußte Handhabung des Darstellungsprinzipes. Von hoher
Bedeutung als das früheste uns zugängliche Beispiel für diese Anwendung der
umgekehrten Perspektive innerhalb der japanischen Kunst ist ein Blatt aus Buddhas
Schriften1) (Abb. 6) das noch dem VIII. Jahrh. angehören soll, und das in einer Reihe
steht mit der Traumdeutung des Joseph aus der Wiener Genesis, die Wulff als Muster-
beispiel seinem Aufsatz voranstellt. Der Zusammenhang mit der ursprünglichen Staffe-
lung ist noch nicht ganz geschwunden. Die Hauptfigur ist hochgerückt, groß gebildet
und selbstverständlich von vorn gesehen. Hieraus ergibt sich mit Notwendigkeit die
Orientierung des übrigen, unter der Voraussetzung, daß die Beziehung der Figuren
zueinander durch die Blickrichtung angedeutet werden sollte. Wie in dem Blatte der
Wiener Genesis, so wird auch hier ein Kreis um die Hauptperson gelegt, und beide-
male findet sich das so charakteristische Kleinerwerden der Figuren nach vorn. Die
zwei in der Zeichnung und allen Einzelheiten fast identischen, bärtigen Männer, die
in schräger Richtung nach rechts vorn von Buddha aus orientiert sind, geben das
eklatanteste Beispiel dieser Art.
Im Anschluß an die Erörterung der Möglichkeiten einer historischen Ableitung
mag ein Wort über die psychologische Bedeutung der Darstellungsform, mit der eben-
falls bereits Wulff sich beschäftigt hat, am Platze sein. Haben wir uns von der uns
geläufigen Forderung der mehr oder minder illusionären Wirkung des Kunstwerkes,
das stets vom Standpunkt des Künstlers her und für den des Beschauers gedacht sein
soll, freigemacht, ist uns bewußt geworden, daß nur ein entwickeltes Denken die
Grundlage dieser Kunstanschauung bilden kann, so werden wir auch den Zugang
finden zu den Quellen, denen eine geradewegs entgegengesetzt gerichtete Darstellungs-
9 Kokka. Heft 11, 1.
Abb. 10. Szene aus dem Ise-Monogatori. Tosa-Schule. XIV. Jahrh.
Kokka 196, 5
Japan übertragen wurde. Daß die japanische Entwicklung nicht unabhängig von der
festländisch chinesischen sich vollzog, muß nach dem bisher zugänglichen Denk-
mälerbestand notwendig angenommen werden. In Japan läßt sich keine so hoch
hinaufreichende Entstehungsgeschichte verfolgen. Dagegen findet sich hier erst die
zweifellos sichere und bewußte Handhabung des Darstellungsprinzipes. Von hoher
Bedeutung als das früheste uns zugängliche Beispiel für diese Anwendung der
umgekehrten Perspektive innerhalb der japanischen Kunst ist ein Blatt aus Buddhas
Schriften1) (Abb. 6) das noch dem VIII. Jahrh. angehören soll, und das in einer Reihe
steht mit der Traumdeutung des Joseph aus der Wiener Genesis, die Wulff als Muster-
beispiel seinem Aufsatz voranstellt. Der Zusammenhang mit der ursprünglichen Staffe-
lung ist noch nicht ganz geschwunden. Die Hauptfigur ist hochgerückt, groß gebildet
und selbstverständlich von vorn gesehen. Hieraus ergibt sich mit Notwendigkeit die
Orientierung des übrigen, unter der Voraussetzung, daß die Beziehung der Figuren
zueinander durch die Blickrichtung angedeutet werden sollte. Wie in dem Blatte der
Wiener Genesis, so wird auch hier ein Kreis um die Hauptperson gelegt, und beide-
male findet sich das so charakteristische Kleinerwerden der Figuren nach vorn. Die
zwei in der Zeichnung und allen Einzelheiten fast identischen, bärtigen Männer, die
in schräger Richtung nach rechts vorn von Buddha aus orientiert sind, geben das
eklatanteste Beispiel dieser Art.
Im Anschluß an die Erörterung der Möglichkeiten einer historischen Ableitung
mag ein Wort über die psychologische Bedeutung der Darstellungsform, mit der eben-
falls bereits Wulff sich beschäftigt hat, am Platze sein. Haben wir uns von der uns
geläufigen Forderung der mehr oder minder illusionären Wirkung des Kunstwerkes,
das stets vom Standpunkt des Künstlers her und für den des Beschauers gedacht sein
soll, freigemacht, ist uns bewußt geworden, daß nur ein entwickeltes Denken die
Grundlage dieser Kunstanschauung bilden kann, so werden wir auch den Zugang
finden zu den Quellen, denen eine geradewegs entgegengesetzt gerichtete Darstellungs-
9 Kokka. Heft 11, 1.