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Monatshefte für Kunstwissenschaft
zelten, oder eine enzyklopädische Zusammen-
fassung großer Zeiträume, als den Eindruck
einer sich stetig entwickelnden und harmonisch
sich ausbreitenden Kultur erhalten. Und ganz
sind die Verfasser um diese Schwierigkeit nicht
herumgekommen.
Gerade bei den Abschnitten, die geistige
Entwicklung und Schrifttum behandeln, glauben
wir recht oft, eher eine Literatur- als eine
Kulturgeschichte zu lesen. Die zehn attischen
Redner werden uns fein säuberlich aufgezählt,
ebenso die sämtlichen Schriften des Xenophon;
aber über den Seelenglauben eines Äschylus
odr. egar eines Pindar (seine s^vot werden nur
kurz erwähnt) erfahren wir doch recht wenig.
Auch dürfte meines Erachtens die Person und
die Kunst des Aristophanes gerade in ihrer Be-
deutung für die Kultur mehr gewürdigt werden;
mit einer bloßen Inhaltsangabe seiner Werke
und einigen Bemerkungen über seine „Un-
sauberkeit" ist es nicht getan. In der schwie-
rigen Frage über die Entstehung der Tragödie
schließt sich der Verf. im allgemeinen den herr-
schenden Ansichten an, vielleicht hätte auch hier
das ursprüngliche, religiöse Moment, das Be-
streben, mit dem Gotte völlig eins zu werden
(durch Tracht und Maske) mehr hervorgehoben
werden können. Diese verhältnismäßig geringe
Beachtung der rein religiösen Grundlagen —
und wie wichtig sie gerade für die Erkenntnis
der Kultur sind, wird uns ja von Tag zu Tag
klarer — zeigt sich auch in den Abschnitten,
die dem staatlichen, häuslichen und religiösen
Leben der Griechen gewidmet sind. Das rein
politische ist trefflich erfaßt; schon in der ein-
gehenden Schilderung der athenischen und spar-
tanischen Verfassung tritt uns der gewaltige
Gegensatz dieser beiden Mächte greifbar ent-
gegen; aber gerade in einer Kulturgeschichte
wäre es wohl am Platze gewesen, auf die in-
nersten Regungen der Volksseele, die sich da-
mals fast nur aus religiösen Motiven erklären
lassen, noch näher einzugehen. So hätte der
doch wohl aus Thrakien eingedrungeneDionysos-
kult eine tiefer gehende Würdigung verdient.
Bei den Bemerkungen über die Mysterien zu
Eleusis, über Seelenglauben und Seelenkult im
homerischen Zeitalter, endlich über Blutrache
und Mordsühne hätte der Verf. sich ungescheut
noch mehr an die bis heute geltenden Dar-
legungen und Ansichten Rohdes in der „Psyche"
halten dürfen.
Auch die berühmte Geißelung der spartani-
schen Knaben am Altäre der Artemis Orthia
ist ursprünglich wohl nicht reines Erziehungs-
mittel, sondern Ersatz eines alten Menschen-
opfers gewesen. Da das Buch auch den Zwecken
der Schule dienen will, ist ein Faktor der grie-
chischen Kultur, über den wir gerade in letzter
Zeit höchst merkwürdige schriftliche Urkunden
erhalten haben, die Knabenliebe, wohl mit Ab-
sicht fast ganz übergangen. Dagegen hätte, da
recht oft und nicht immer ganz glücklich mo-
derne Verhältnisse zum Vergleich herangezogen
werden, noch deutlicher auf den gewaltigen
Unterschied hingewiesen werden sollen, der
zwischen unseren Millionenstaaten und den
griechischen tio^ mit ihrer geringen Ausdeh-
nung und Bevölkerungszahl besteht. Bei einer
Darstellung der griechischen Kultur muß die
Behandlung der bildenden Kunst naturgemäß
einen bedeutenden Platz beanspruchen, dies ist
auch in unserem Werke geschehen und mir
scheinen diese Abschnitte die vorzüglichsten des
Buches. Eine erhebliche Erweiterung gegenüber
der ersten Auflage besteht darin, daß die kre-
tischen Funde, entsprechend ihrer gewaltigen
Bedeutung für das griechische Altertum und
Mittelalter, aus eigener Anschauung klar und
liebevoll geschildert sind; erst aus ihnen lernen
wir Tiryus und Mykene, lernen wir die Kultur
der Ilias völlig verstehen. Aber auch sonst gibt
uns der Verfasser, unterstützt durch reichliches,
vielleicht allzu reichliches Bildermaterial, ein an-
schauliches Bild griechischer Kunstentwicklung
von den einfachen Ornamenten, mit denen die
primitive Kunst eines jeden „Altertums" be-
ginnt, bis zu den ewigen Werken des Phidias
und Praxiteles.
Der vorliegende Band schließt zeitlich mit
der Schlacht bei Chäronea (338) ab, einem zwei-
ten sind die Kultur des Helleuismus und der
Römerzeit vorbehalten. Seinen Beifall kann
man dem Werk nicht versagen. Die rasche
Notwendigkeit einer zweiten Auflage allein zeigt
schon, wie sehr es dem Bedürfnis weiterer
Kreise entgegenkam, sich über das Volk ge-
nauere Kunde zu verschaffen, dem wir selbst
so ungeheuer viel und mehr noch als wir ahnen,
verdanken. Und auch wer mancherlei an dem
Buch auszusetzen findet, vielleicht im tiefsten
Inneren seine Berechtigung bestreitet, wird durch
seine Lektüre dazu angeregt, sich aufs neue
und immer eingehender mit den grundlegenden
Werken, die den Gegenstand behandeln, zu be-
schäftigen, oder noch besser an die Quellen
selbst heranzugehen, sich aus den Werken der
ewig jungen „Alten" Belehrung und Freude zu
holen.
Lörrach i./W. Ulrich Bernays.
Monatshefte für Kunstwissenschaft
zelten, oder eine enzyklopädische Zusammen-
fassung großer Zeiträume, als den Eindruck
einer sich stetig entwickelnden und harmonisch
sich ausbreitenden Kultur erhalten. Und ganz
sind die Verfasser um diese Schwierigkeit nicht
herumgekommen.
Gerade bei den Abschnitten, die geistige
Entwicklung und Schrifttum behandeln, glauben
wir recht oft, eher eine Literatur- als eine
Kulturgeschichte zu lesen. Die zehn attischen
Redner werden uns fein säuberlich aufgezählt,
ebenso die sämtlichen Schriften des Xenophon;
aber über den Seelenglauben eines Äschylus
odr. egar eines Pindar (seine s^vot werden nur
kurz erwähnt) erfahren wir doch recht wenig.
Auch dürfte meines Erachtens die Person und
die Kunst des Aristophanes gerade in ihrer Be-
deutung für die Kultur mehr gewürdigt werden;
mit einer bloßen Inhaltsangabe seiner Werke
und einigen Bemerkungen über seine „Un-
sauberkeit" ist es nicht getan. In der schwie-
rigen Frage über die Entstehung der Tragödie
schließt sich der Verf. im allgemeinen den herr-
schenden Ansichten an, vielleicht hätte auch hier
das ursprüngliche, religiöse Moment, das Be-
streben, mit dem Gotte völlig eins zu werden
(durch Tracht und Maske) mehr hervorgehoben
werden können. Diese verhältnismäßig geringe
Beachtung der rein religiösen Grundlagen —
und wie wichtig sie gerade für die Erkenntnis
der Kultur sind, wird uns ja von Tag zu Tag
klarer — zeigt sich auch in den Abschnitten,
die dem staatlichen, häuslichen und religiösen
Leben der Griechen gewidmet sind. Das rein
politische ist trefflich erfaßt; schon in der ein-
gehenden Schilderung der athenischen und spar-
tanischen Verfassung tritt uns der gewaltige
Gegensatz dieser beiden Mächte greifbar ent-
gegen; aber gerade in einer Kulturgeschichte
wäre es wohl am Platze gewesen, auf die in-
nersten Regungen der Volksseele, die sich da-
mals fast nur aus religiösen Motiven erklären
lassen, noch näher einzugehen. So hätte der
doch wohl aus Thrakien eingedrungeneDionysos-
kult eine tiefer gehende Würdigung verdient.
Bei den Bemerkungen über die Mysterien zu
Eleusis, über Seelenglauben und Seelenkult im
homerischen Zeitalter, endlich über Blutrache
und Mordsühne hätte der Verf. sich ungescheut
noch mehr an die bis heute geltenden Dar-
legungen und Ansichten Rohdes in der „Psyche"
halten dürfen.
Auch die berühmte Geißelung der spartani-
schen Knaben am Altäre der Artemis Orthia
ist ursprünglich wohl nicht reines Erziehungs-
mittel, sondern Ersatz eines alten Menschen-
opfers gewesen. Da das Buch auch den Zwecken
der Schule dienen will, ist ein Faktor der grie-
chischen Kultur, über den wir gerade in letzter
Zeit höchst merkwürdige schriftliche Urkunden
erhalten haben, die Knabenliebe, wohl mit Ab-
sicht fast ganz übergangen. Dagegen hätte, da
recht oft und nicht immer ganz glücklich mo-
derne Verhältnisse zum Vergleich herangezogen
werden, noch deutlicher auf den gewaltigen
Unterschied hingewiesen werden sollen, der
zwischen unseren Millionenstaaten und den
griechischen tio^ mit ihrer geringen Ausdeh-
nung und Bevölkerungszahl besteht. Bei einer
Darstellung der griechischen Kultur muß die
Behandlung der bildenden Kunst naturgemäß
einen bedeutenden Platz beanspruchen, dies ist
auch in unserem Werke geschehen und mir
scheinen diese Abschnitte die vorzüglichsten des
Buches. Eine erhebliche Erweiterung gegenüber
der ersten Auflage besteht darin, daß die kre-
tischen Funde, entsprechend ihrer gewaltigen
Bedeutung für das griechische Altertum und
Mittelalter, aus eigener Anschauung klar und
liebevoll geschildert sind; erst aus ihnen lernen
wir Tiryus und Mykene, lernen wir die Kultur
der Ilias völlig verstehen. Aber auch sonst gibt
uns der Verfasser, unterstützt durch reichliches,
vielleicht allzu reichliches Bildermaterial, ein an-
schauliches Bild griechischer Kunstentwicklung
von den einfachen Ornamenten, mit denen die
primitive Kunst eines jeden „Altertums" be-
ginnt, bis zu den ewigen Werken des Phidias
und Praxiteles.
Der vorliegende Band schließt zeitlich mit
der Schlacht bei Chäronea (338) ab, einem zwei-
ten sind die Kultur des Helleuismus und der
Römerzeit vorbehalten. Seinen Beifall kann
man dem Werk nicht versagen. Die rasche
Notwendigkeit einer zweiten Auflage allein zeigt
schon, wie sehr es dem Bedürfnis weiterer
Kreise entgegenkam, sich über das Volk ge-
nauere Kunde zu verschaffen, dem wir selbst
so ungeheuer viel und mehr noch als wir ahnen,
verdanken. Und auch wer mancherlei an dem
Buch auszusetzen findet, vielleicht im tiefsten
Inneren seine Berechtigung bestreitet, wird durch
seine Lektüre dazu angeregt, sich aufs neue
und immer eingehender mit den grundlegenden
Werken, die den Gegenstand behandeln, zu be-
schäftigen, oder noch besser an die Quellen
selbst heranzugehen, sich aus den Werken der
ewig jungen „Alten" Belehrung und Freude zu
holen.
Lörrach i./W. Ulrich Bernays.