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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 9.1916

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Eisler, Max: Die Freiung in Wien nebst einem Exkurs über die Raumform an sich
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https://doi.org/10.11588/diglit.69938#0339

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DIE FREIUNG IN WIEN NEBST EINEM
EXKURS ÜBER DIE RAUMFORM AN SICH
Mit neun Abbildungen auf drei Tafeln und drei Skizzen im Text Von MAX EISLER

Die Architekturgeschichte braucht eine gründliche Erneuerung. Sie hat bisher ihr
Augenmerk auf alles eher gerichtet als auf den Kern der Sache, die erzielte
Raumform. Soweit sie sich mit diesem Begriffe überhaupt befaßte, gab sie eine
Beschreibung des raumumschließenden Mantels, nicht des umschlossenen Luft-
raumes, — innen und außen. Und die Stilarten, die sie unterscheiden lehrte, waren
von diesem Tastbaren, Außenkörper und Innengewände, abgelesen. Selbst auf die
Spannung zwischen Außenkörper und Innenraum ging man nicht näher ein.
Ist es nun möglich, die Raumform, die wir meinen, und ihren Unterschied von
dem geläufigen Begriff anschaulich zu machen? Wohl, wenn auch nur beiläufig.
Man denke sich ein typisch gotisches Gehäuse ins Modell gebracht, den Modellraum
mit einer plastischen Masse vollgegossen und sie ihm hernach wieder entnommen.
Dann hat man den umschlossenen Luftraum als greifbare Masse vor sich. Geht
man nun blos an seine äußere Beschreibung, dann wird man ohne weiteres gewahr,
daß er jede Vertiefung des Gehäuses als Erhabenheit und umgekehrt wiedergibt.
Und das gleiche Verfahren führt bei dem Abguß des Frairaumes, soweit er sich
zwischen Architekturen bewegt, zu gleichen Ergebnissen. Wir gewinnen das
Positiv der Raumform, während wir uns bisher blos um das Negativ bemüht
haben. Aber das ist nur ein bescheidener und grober Anfang. Man denke nur für
den Innen- und Außenraum an die optisch und rhythmisch hauptbestimmenden
Lichtverhältnisse, für den Freiraum an den unwiedergeblichen Eingriff des über-
gelagerten Luftraumes, um die Grenze der Darstellbarkeit unserer Vorstellung von
der positiven Raumform ungefähr zu ermessen. Doch genügt es für diesmal, dem
Begriff eine reelle Basis zu geben. Darüber hinaus muß ja unsere ganze er-
kennende Energie, die bisher materiell überlastet war, gerade darauf gerichtet sein,
die Flüchtigkeit dieser Form rein zu erfassen, sie völlig zu entmaterialisieren.
Der erste Schritt zur Erschließung der Raumstile wird daher von einer Unter-
suchung des Innenraumes an sich, seiner Masse und Maße, seiner Gliederung und
Bewegung kommen. Das Sehen wird sich vom Rahmen auf die Füllung richten
müssen. Die Untersuchung wird unterscheiden: zwischen der allseitigen Existenz
des Raumes, die nur durch einen fortwährenden Wechsel der Standpunkte ermittelt,
als Ganzes wohl dargestellt, aber nicht auch wahrgenommen werden kann, und
jener Sichtbarkeit, die sich von einzelnen wohlgewählten Standpunkten aus ergibt,
das existente Ganze vernachlässigt, aber die jeweils optische Einheit umfaßt. Und
sie wird aus der Summe dieser zweifachen Feststellungen Stilbegriffe gewinnen,
die nicht mehr ausschließlich den struktiven und dekorativen Greifbarkeiten ent-
nommen sind, sondern diese attributiven Elemente der Hauptsache unterordnen:
der zwischen Gefühl und Bewußtsein spielenden Raumgesinnung, dem Raumsehen
und dem Raumformen. Sie wird der Ursache und dem Ziele näher treten und
dem bisher überwerteten Mittel seine gebührende Zwischenstellung zuweisen.
Der Schritt vom verbauten Innenraum zum umbauten Freiraum wird dann ein
Schritt zu grundsätzlich erweiterten Erkenntnissen. Eine reine Stileinheit im Frei-
raume kann sich wohl nur dort ergeben, wo sein Grundriß mit den umgebenden
Baulichkeiten völlig zusammengeht, als Ergebnis einer einmütig schaffenden Periode
oder eines gemeinsamen Künstlerplanes. Dann gilt auch für die Erforschung des
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