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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 9.1916

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Schmidt, Paul Ferdinand: Jakob A. Carstens
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https://doi.org/10.11588/diglit.69938#0209

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JAKOB A. CARSTENS Von PAUL FERD. SCHMIDT
Unter die größten und bewundernswertesten Erscheinungen im deutschen Geistes-
leben wird man zu allen Zeiten Jakob Asmus Carstens rechnen. Gleichgültig,
wie man zu der Kunstepoche steht, die er vertritt: seine sittliche Größe und die
Erhabenheit des künstlerischen Ideals, die er durch sein Leben und Schaffen dar-
stellte, zwingen zur Ehrfurcht. Er war ein ganzer Mann, ein Künstler von dem
Ausmaß der Großen und ein Deutscher bis ins Mark hinein; sein Leben und sein
Ringen um die Kunst erscheinen, je ferner uns seine Gestalt zeitlich rückt, um so
vorbildlicher und unserem Herzen näher als Rembrandt. Wählen wir einen Mann
und Künstler als Erzieher zum Deutschtum, so soll es Carstens sein.
Wer aber kennt diesen unvergleichlichen Menschen; wer hat mit wahrer Liebe
seine Werke in Weimar oder Kopenhagen betrachtet und ihren Wert erkannt?
Nicht, daß die Beurteilung seines Schaffens einem unerhörten Schwanken unter-
worfen war, hat ihn dem deutschen Volk so fremd gemacht; sondern — obwohl es
viele Gründe gibt, so ist doch dieses schuld an der Nacht seiner Vergessenheit, daß
selten sich ein Liebhaber die Mühe nimmt, seine Originale anzusehen; daß man
sich von ihm ein Bild macht aus den mittelmäßigen Kupferstichen von Müller oder
allenfalls den Radierungen der Argonauten von Koch. Es gab eine Zeit, in der
berühmte Kunstgelehrte offen bekannten, lieber Abgüsse als die Originalskulpturen
von Michelangelo zu sehen. Man wundert sich heute darüber, aber man geht über
Carstens zur Tagesordnung über auf Grund von Umrißstichen, die seine Handschrift
nicht etwa kopieren, sondern in schlimmem Sinne verfälschen. Die Ausstellungen
deutscher Kunst in Berlin 1906 und in Darmstadt 1914 haben uns auch die kleinsten
Meister des 18. und 19. Jahrhunderts nahe gebracht: an Carstens gingen beide mit
bloßen Andeutungen vorüber. Es ist, als sollte er totgeschwiegen werden; und
liest man, was eine so unabhängige Stimme wie die Labans 1906 über ihn schrieb:
„Dieser brave Mann und abstrakte Zeichner . . kann uns als schöpferischer Genius
nicht mehr aufgedrängt werden“ — so glaubt man beinahe an den bösen Willen
einer Zeit, die einen Menzel zum Genie erhob.1)
Es ist eigentlich niemandem schwer gemacht, Carstens gerecht zu werden. So
wie man Runge in Hamburg beisammen findet (eines der größten Verdienste Licht-
warks), so hat Fernow dafür gesorgt, daß Carstens’ wesentliche Werke in Weimar
vereinigt geblieben sind. Man muß nur die Scheu vor dem „klassizistischen“
Schreckgespenst überwinden; und man muß, das ist allerdings wahr, durch Äußerlich-
keiten der Form das Echte und Schöpferische großer Kunst zu erkennen vermögen.
Aber das machen die Originale nicht so schwer; in den Umrißstichen ist es freilich
ganz unmöglich: sie sind schlimmer als gar nichts, und man sollte sie vernichten.
Was uns not täte, ist eine würdige Veröffentlichung seiner Hauptwerke mit dem
ganzen Gewicht unserer gesteigerten Technik. Zum Glück für diese besteht
Carstens Werk nämlich fast ausschließlich aus Zeichnungen und leicht kolorierten
Aquarellen und Temperagemälden, so daß gute Reproduktionen wohl eine Vorstellung
von ihm vermitteln könnten.
Dieser Umstand aber gereichte ihm wieder zu schwerem Vorwurf in einer Zeit,
(1) Am schärfsten hat sich die neuere Tendenz gegen ihn ausgesprochen; aus dem Gesichtspunkt
des Impressionismus heraus ist es allerdings schwer, dem Idealismus gerecht zu werden. Als
typisch mögen gelten: Muther, Geschichte der Malerei des ig. Jahrh., I, S. 102ff.; Laban in Die
Kunst, XIII, S. 272; Pauli im Jahrb. der Brem. Sl„ II, S. 51.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, IX. Jahrg. 1916, Heft 6 16 197
 
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