STUDIEN ÜBER DIE DEUTSCHE KUNST
........... Von EMILE MALE
II. ROMANISCHE BAUKUNST.
Deutschland ist auf seine romanischen Kirchen stolz; es sieht in ihnen eine
der edelsten Schöpfungen seines Geistes. Wer hat nicht bei einer Rhein-
fahrt die sich vom Abendhimmel abhebenden Silhouetten der Dome von Speyer,
Worms, Mainz, mit ihren zwei Kuppeln, zwei Querschiffen und vier Türmen be-
wundert? Sie bieten der Phantasie einen geheimnisvollen Reiz, da sie nicht unseren
Kirchen in Frankreich ähneln. Sie befremden: man könnte sie für zwei Kirchen halten,
die an den äußersten Enden zu einer einzigen zusammengeschweißt sind; sie erinnern
an den zweiköpfigen Adler des heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Ihre
Wucht ist durch Anmut gemildert, die oberen Teile der Apsiden sind durchbrochen
und bilden einen eleganten, halbkreisförmigen Säulengang: eine reizvolle Erfindung
und eine der glücklichsten in der Geschichte der Baukunst. Bis Köln trifft man
diese leichten, luftigen Apsiden, die dem Rheintal so viel Poesie geben.
Das ist eine Kunst, die ein eigenartiges Gepräge zu tragen scheint. Wo fände
man ähnliche Kirchen? Verrät sich hier nicht die schöpferische Kraft Deutsch-
lands und fordert sie nicht zur Analyse heraus?
Aber die Eigenart ist nur scheinbar: eine aufmerksame Prüfung wird uns zeigen,
daß alles, was uns an diesen Bauwerken originell dünkt, nicht eigentlich deutsches,
sondern Lehngut ist.
Verweilen wir beim Dom von Speyer. Er weist eigentümliche Anordnungen
auf, die man in keiner romanischen Kirche Frankreichs oder Italiens antrifft. Er
hat zwei Querschiffe, eines am Eingang, das eine Vorhalle bildet, ein zweites vor dem
Chor. An der Vierung jedes dieser Querschiffe erhebt sich eine Kuppel mit einem
nach außen vorspringenden Turm; doch nicht genug daran: Jedes Querschifi' ist mit
zwei in den Winkeln aufgestellten Glockentürmen versehen, die die Kuppeln einrahmen.
Hat Deutschland das erfunden? Nein, sondern das karolingische Frankreich.
Was uns am Dom von Speyer überrascht, sind keine Neuerungen, sondern
Archaismen. Nicht weit von Abbeville, in Saint-Riquier, gab es zur Zeit Karls des
Großen eine dem Speyerer Dom ähnliche Kirche. Die Abtei von Saint-Riquier, die
damals Abtei von Centula hieß, wurde um 800 gegründet. Eine oft nachgedruckte,
kostbare Zeichnung zeigt uns eine karolingische Kirche, so wie sie noch im 11. Jahr-
hundert, kurz vor ihrem Umbau, aussah. Einige Aufzeichnungen Angilberts sowie
eines Chronisten des Klosters, namens Hariulfe, erläutern diese Zeichnung und
verbürgen ihre Genauigkeit. Aus diesen Dokumenten geht hervor, daß die Kirche
von Saint-Riquier zwei Querschifie, eines am Eingang des Langschiffes, das andere
vor dem Chor hatte. Die von den Querschiffen gebildete Vierung war von einer
Kuppel oder einem Turm gekrönt; dazu gesellten sich zwei Glockentürme, die aus
den Winkeln aufstrebten1. Die Kirche von Saint-Riquier mit ihren vier Glocken-
türmen, zwei Querschiffen und den zwei Mitteltürmen, hatte somit denselben Plan,
wie später der Dom zu Speyer. Nun ahnen wir, weshalb dieser Plan, der uns
heute so seltsam anmutet, zur Anwendung kam: unter jedem dieser Türme, die
(1) Der Künstler des n. Jahrhunderts, der die Gesetze der Perspektive nicht kannte, hat nur einen dem
Querschiff angesetzten Glockenturm dargestellt; man muß sich den zweiten durch den ersten verdeckt
denken. Der Text beweist übrigens, daß zwei Glockentürme auf jedem Querschiff da waren.
429
Monatshefte für Kunstwissenschaft, IX. Jahrg. 1916, Heft i2
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........... Von EMILE MALE
II. ROMANISCHE BAUKUNST.
Deutschland ist auf seine romanischen Kirchen stolz; es sieht in ihnen eine
der edelsten Schöpfungen seines Geistes. Wer hat nicht bei einer Rhein-
fahrt die sich vom Abendhimmel abhebenden Silhouetten der Dome von Speyer,
Worms, Mainz, mit ihren zwei Kuppeln, zwei Querschiffen und vier Türmen be-
wundert? Sie bieten der Phantasie einen geheimnisvollen Reiz, da sie nicht unseren
Kirchen in Frankreich ähneln. Sie befremden: man könnte sie für zwei Kirchen halten,
die an den äußersten Enden zu einer einzigen zusammengeschweißt sind; sie erinnern
an den zweiköpfigen Adler des heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Ihre
Wucht ist durch Anmut gemildert, die oberen Teile der Apsiden sind durchbrochen
und bilden einen eleganten, halbkreisförmigen Säulengang: eine reizvolle Erfindung
und eine der glücklichsten in der Geschichte der Baukunst. Bis Köln trifft man
diese leichten, luftigen Apsiden, die dem Rheintal so viel Poesie geben.
Das ist eine Kunst, die ein eigenartiges Gepräge zu tragen scheint. Wo fände
man ähnliche Kirchen? Verrät sich hier nicht die schöpferische Kraft Deutsch-
lands und fordert sie nicht zur Analyse heraus?
Aber die Eigenart ist nur scheinbar: eine aufmerksame Prüfung wird uns zeigen,
daß alles, was uns an diesen Bauwerken originell dünkt, nicht eigentlich deutsches,
sondern Lehngut ist.
Verweilen wir beim Dom von Speyer. Er weist eigentümliche Anordnungen
auf, die man in keiner romanischen Kirche Frankreichs oder Italiens antrifft. Er
hat zwei Querschiffe, eines am Eingang, das eine Vorhalle bildet, ein zweites vor dem
Chor. An der Vierung jedes dieser Querschiffe erhebt sich eine Kuppel mit einem
nach außen vorspringenden Turm; doch nicht genug daran: Jedes Querschifi' ist mit
zwei in den Winkeln aufgestellten Glockentürmen versehen, die die Kuppeln einrahmen.
Hat Deutschland das erfunden? Nein, sondern das karolingische Frankreich.
Was uns am Dom von Speyer überrascht, sind keine Neuerungen, sondern
Archaismen. Nicht weit von Abbeville, in Saint-Riquier, gab es zur Zeit Karls des
Großen eine dem Speyerer Dom ähnliche Kirche. Die Abtei von Saint-Riquier, die
damals Abtei von Centula hieß, wurde um 800 gegründet. Eine oft nachgedruckte,
kostbare Zeichnung zeigt uns eine karolingische Kirche, so wie sie noch im 11. Jahr-
hundert, kurz vor ihrem Umbau, aussah. Einige Aufzeichnungen Angilberts sowie
eines Chronisten des Klosters, namens Hariulfe, erläutern diese Zeichnung und
verbürgen ihre Genauigkeit. Aus diesen Dokumenten geht hervor, daß die Kirche
von Saint-Riquier zwei Querschifie, eines am Eingang des Langschiffes, das andere
vor dem Chor hatte. Die von den Querschiffen gebildete Vierung war von einer
Kuppel oder einem Turm gekrönt; dazu gesellten sich zwei Glockentürme, die aus
den Winkeln aufstrebten1. Die Kirche von Saint-Riquier mit ihren vier Glocken-
türmen, zwei Querschiffen und den zwei Mitteltürmen, hatte somit denselben Plan,
wie später der Dom zu Speyer. Nun ahnen wir, weshalb dieser Plan, der uns
heute so seltsam anmutet, zur Anwendung kam: unter jedem dieser Türme, die
(1) Der Künstler des n. Jahrhunderts, der die Gesetze der Perspektive nicht kannte, hat nur einen dem
Querschiff angesetzten Glockenturm dargestellt; man muß sich den zweiten durch den ersten verdeckt
denken. Der Text beweist übrigens, daß zwei Glockentürme auf jedem Querschiff da waren.
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Monatshefte für Kunstwissenschaft, IX. Jahrg. 1916, Heft i2
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