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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 9.1916

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.69938#0400

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Wir werden uns auf die Prüfung der Kunst des Mittelalters beschränken, welche
wir eingehender studiert haben; aber was für das Mittelalter zutrifft, stimmt auch
für die neuere Zeit, und der Beweis dafür wird ebenso leicht zu liefern sein.
Deutschland hatte die Anmaßung, sich für das große schöpferische Volk zu halten;
es muß ihm gezeigt werden, daß es sich irrt. Es sollten alle, die sich mit dem
Studium seiner Zivilisation befaßt haben, dazu behilflich sein, bis der Moment der
Niederlage es an seinen wirklichen Platz stellt, welcher nicht der erste sein wird. —
I.
Es ist nötig, bis zu den Einfällen der Barbaren zurückzugehen, weil Deutschland
sie uns wie seine ersten Wohltaten darstellt. Ihm zufolge haben die Germanen
die persönliche Freiheit, die tiefe Frömmigkeit, das Ehrgefühl, die Hingabe des
Menschen an den Menschen, den Frauendienst, die epische Poesie und endlich die
Kunst der Zukunft gebracht. Das Mittelalter ist das Werk des germanischen
Geistes. „Das deutsche Volk“, sagte Schlegel, „war im Mittelalter eine Art aus-
erwähltes Volk.“
Eigenartig, unsere Geschichtsschreiber haben fast durchgängig diese Auffassung
begünstigt. Fast alle entdeckten sie im Germanen eine mystische Tugend, eine
Kraft der Jugend und der Zukunft. Die Wirklichkeit verbirgt ihnen lange der
traumvolle Dunst, die Morgenröte, die von Deutschland heraufsteigen. Es bedurfte
des festen gesunden Verstandes eines Fustel de Coulanges, um die Wolken zu ver-
teilen. Er zeigt in einem schönen Buche, dem er leider nicht seine vollendete
Form hat geben können — keine Form klar wie Licht — daß die Barbaren uns
nichts anderes gebracht haben als Barbarei, daß sie nicht die Tugenden besaßen,
die man ihnen beimaß, (es fällt uns heute nicht schwer, dies zu glauben) und daß
sie in zu geringer Zahl in Gallien eindrangen, um die Charaktere der Rasse ändern
zu können.
Inzwischen haben andere Arbeiten die Täuschung der Barbaren eigenartig ent-
schleiert. Für Leon Gautier, obwohl er durch und durch französisch war, galt das
Heldengedicht des Mittelalters als ein Werk von „rein germanischer Inspiration“: sein
Odem, sein Schwung, stammten von dem germanischen Barden, der zur Zeit Karls
des Großen, nach der Schlacht die Kriegsgesänge improvisierte, denen das epische
Gedicht des XII. Jahrhunderts entsprang. Im französischen Heldengedicht, sagte er,
sind die Auffassung des Krieges, des Königtums, des Rechtes, endlich die Idee der
Frau ganz germanisch. Die deutschen Gelehrten verlangten nichts Besseres; sie
glaubten das Recht zu haben, sich unsere mittelalterliche Poesie wie eine Provinz
des Kaiserreiches anzueignen, da sie nach eigenem Eingeständnis nichts anderes
war, als „germanischer Geist in romanischer Form“. Man weiß, daß Joseph Bedier
in seinem schönen Buch über die epischen Legenden dieser langen Täuschung ein
Ende gesetzt hat. Er hat bewiesen, daß unsere epische Dichtkunst nicht aus den
sogenannten karolingischen Kantilenen hervorgegängen ist, daß sie sich nicht an-
einander reihen, sondern daß sie in allen Teilen, zur Zeit des ersten Kreuzzuges,
geschaffen ist durch Dichter, welche bereits zeitgenössische Künstler und vor allen
Dingen reine Franzosen waren. Wir können beruhigt sein, unser Heldengedicht
des Mittelalters enthält nichts Germanisches und Deutschland hat zum Rolandlied
ebenso wenig beigetragen, wie zur Ilias.
Deutschland erhob noch andere Ansprüche. Es wollte uns glauben machen, die
Barbaren als wahre Schöpfer der Kunst der nachfolgenden Jahrhunderte hätten eine
neue, eigenartige Kleinkunst reinsten deutschen Ursprungs nach Gallien gebracht.
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