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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 5.1902/​1903

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Heft 2
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Schäfer, Wilhelm: Rheinbrücken, [1]: Beiträge zum modernen Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.45536#0069

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als die selbstverständlichen Erben aller vergangenen
konftruktionsfähigkeiten sehen uns ihre Werke
natürlich nur noch auf ihre ästhetische Wirkung
hin an, und wenn wir von 5til sprechen, meinen
wir lediglich gewisse Rormeinheiten. Ob aber
nicht eine Nachwelt, denen die Konstruktionskunst
unserer Ingenieure geläufig ist, auch unsere Visen-
drücken nur noch auf ihre ästhetische Wirkung
hin betrachten wird? Ls scheint mir gar kein
so phantastischer 6edanke, dast sie in der herben
Einfachheit der konstruktiven formen eine Er-
innerung an die erste 6otik finden werden,
fluch fonst drängt der vergleich sich auf: was für
eine konstruktive Kühnheit war der Spitzbogen
vor dem romanischen öewölde? wir haben es
heute leicht, Betrachtungen anzustellen, wie er
dem Leist seiner Zeit die Hände frei machte, einer
Zeit, die nicht mehr förmiges Lriechentum und
nicht mehr bgzantinisch verdorbenes bömertum,
sondern jenes inbrünstige Christentum des Mittel-
alters war, in dem sich der erste und völlige
Zusammenschlutz der abendländischen Menschheit
vollzog, Uber wir wollen Zugleich nicht über-
sehen, datz der Spitzbogen die einzige Möglichkeit
war, die schwere des Materials in immer grötzerer
Leichtigkeit zu gestalten, bis in jenen wunder-
türmen der 5tein, zum Lespinst verarbeitet, frei
in der Luft zu schweben scheint, hat noch niemand
die Übereinstimmung zwischen dem höchsten Stein-
geflecht eines durchbrochenen gotischen Rurms und
dem Eisengeflecht einer modernen brücke gefehen?
Mit dem gotischen Rurm waren die Konstruk-
tionsmöglichkeiten des Steins erschöpft. Leichter,
kühner liest sich nicht damit bauen, (Im badischen
nahe beim Rreiburger Münsterturm steht dafür
ein seltsames Zeichen: ein Lurm, der nur noch
wie ein Lerüst lächerlich in den Himmel ragt,
so unbehindert der wind durch die jämmerlichen
5teinstangen blasen kann, so plump wirkt dennoch
alles.) Lin anderes Baumaterial mit neuen kon-
struktiven Möglichkeiten und bufgaben wurde
nicht gefunden, und so blieb die 6otik die letzte
schöpferische baukunft. Mit der Renaissance be-
gann das kunstbewusttsein des modernen Menschen,
das kluge wissen von der Kunst, die Architektur.
Vie gelehrte vame brachte zunächst eine Wieder-
holung der 6otik auf griechischen und römischen
Lrundformen, die schnell in die Haltlosigkeit des
barock geriet, dann verzichtete sie ganz auf groste
baukunft und machte Innendekoration: das
Rokoko, schämte sich bald dieser eigenen feinen

Häuslichkeit und erlebte eine zweite Renaissance,
eine Wiedergeburt der Wiedergeburt, die schliest-
lich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr-
hunderts wenigstens in Deutschland so etwas wie
eine beschleunigte ewige Wiederkunft wurde.
was dieser verfall der Architektur für unsere
Kultur bedeutet, sagt eine zweite stelle aus dem
trefflichen buch des Muthesius so deutlich, dast
ich sie hierher setzen must.
„Vie alte in allen Zeiten gültig gewesene
Wahrheit, dast die brchitektur die Mutter aller
Künste sei, dast alle bildenden Künste: Malerei,
Skulptur und die gesamten Kleinkünste von ihr
abhängig seien, gewissermasten unter ihrer Rührung
marschierten, sie klingt heute wie ein Märchen.
Und doch, wir brauchen uns nur die grosten
blüten der baukunft, die griechische, römische,
gotische Zeit ins Ledächtnis zu rufen, um zu sehen,
dast diese Wahrheit damals so selbstverständlich
war, dast gar niemand sie auszusprechen brauchte.
Vie gesamte bildende Kunst dieser Zeiten stand
unter dem Zeichen der slrchitektur, man kann
sagen: sie war brchitektur. Vas Lemälde war
Wandbild, im Dienste eines architektonischen
Ledankens auftretend, das bildhauerwerk war
Schmuck der slrchitektur, wie der Edelstein die
goldene Krone schmückt, die Kleinkünste d. h. für
die damaligen Zeiten das Handwerk waren selbst-
verständlich Leile der slrchitektur.
vast dies heute so ganz anders geworden ist,
ja, dast uns dieses uralte Lrundverhäitnis der
bildenden Künste zu einander so ganz fremdartig
anmutet, ist der beste beweis dafür, unter welchen
gekünstelten Umständen sich unser heutiges Kunst-
leben bewegt. Unsrer bildenden Kunst ist der
boden entzogen, sie schwebt gewissermasten in
der Luft. Malerei und bildhauerei ermangeln
dazu heute jenes straffen Zuges, den ihnen ihre
slbhängigkeit von der brchitektur von selbst auf-
nötigte: die gebundene dekorative Linie, die bis
einschliestlich der Rrührenaissance vorherrschte, ist
verloren gegangen. 5ie haben sich mehr oder
weniger ins bnekdotenhafte verloren, und die
slnekdote ist es denn auch fast allein, die heute
das Interesse des grosten Publikums an ihnen
noch wachhält. Vie Kleinkünste treiben selbst in
dem neuen glücklichen bufschwung, den sie gerade
am Ende des neunzehnten jahrhunderts noch
genommen Haden, ratlos umher, solange ihnen
der hort der grosten Mutter Architektur, in diesem
Ralle das künstlerische Haus, fehlt."

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