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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Zweites Heft
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Walden, Herwarth: Kubismus in Stahl
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0037

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MONATSSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN



Kubismus in Stahl
Der Verein Berliner Kunstkritiker liat in
einer Sitzung festgestellt, dass „in einem
Falle die Ausstellung Der Sturm systematisch
totgeschwiegen wird“. Dieser eine Fall ist
das Berliner Tageblatt und sein Kunstkritiker
Herr Fritz Stahl. Herr Stahl darf als Kunst-
kritiker nicht über Kunst schreiben und
muss sich daher die Besprechung der Aus-
stellungen des Sturm versagen. Um so
mehr, da ich Besprechungen von Zauber-
lehrlingen nicht unbesprochen lasse. Herr
Stahl hat plötzlich durch irgend ein Hexen-
kunststück die Sprache des Berliner Tage-
blatts wiedergefunden. Es geht geisterhaft
zu, wenn dieser Tote erwacht. Da nun
Herr Stahl ohne Geister nicht sprechen
wollte, beschaffte er sich vor der Beschwö-
rung ein Buch des Geistes Doktor Otto
Grautoff. Herr Doktor Grautoff ist Kenner.
Er hat in Paris gelebt und von dort Ge-
dichte an die Jugend gesandt. Der Krieg
enthob ihn dieser lyrischen Beschäftigung.
Er weihte sein Leben der Kunstgeschichte
und schrieb als moderner Mensch ein humo-
ristisches Buch über den Expressionismus,
nicht ohne vorher einige Namen von Künst-
lern auswendig gelernt zu haben. Man wird
diese Tätigkeit nicht unterschätzen dürfen.
Denn Namen wie Severinsky und Kandini
sind schwer zu merken, sie machen sich aber
in einer modernen Kunstgeschichte. Herr
Doktor Grautoff' hatte sogar die Absicht,
Werke dieser Künstler zu reproduzieren
und sich deshalb an den Verlag Der Sturm
gewandt. Man konnte ihm nicht helfen,
da der Sturm die Werke von Severinsky
und Kandini noch nicht importiert hatte, wie
Herr Fritz Stahl sich handelspolitisch aus-
zudrücken pflegt. Herr Stahl ist nur für
den Import von Rembrandts aus Holland,
als Erzieher iedem Deutschen bestens

bekannt. Es erübr »ich daher, ihn für
den Import besonder zu empfehlen. Da
nun aber Russisch harnen t lieh recht
schwer ist und ein bischen Französisch
sich immer recht gut macht, schrieb Herr
Doktor Grautoff schnell ein Buch über die
französische Malerei seit 1914. Herr Doktor
Grautoff hatte zwar bis 1914 in Paris ge-
lebt, war aber durch seine lyrische Tätig-
keit behindert, sich mit der französischen
neuen Malerei vor 1914 zu befassen. Und
nur der Krieg hat diesen Kenner verhin-
dert, der Geburtsfeier des Kubismus am
ersten August 1914 beizuwohnen. G’est la
guerre. Herr Doktor Grautoff nahm nun
die erste Möglichkeit wahr, seinen Haus-
stand in Paris aufzulösen. Er konnte es
bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen,
sich mit den Vätern des Kubismus in
Verbindung zu setzen, um das nötige
photographische Material zu beschaffen,
was ihm zur Herausgabe eines Buches
über die Neugeburt unerlässlich schien.
Da er mit dem Hausstand sehr viel
zu tun hatte und er ausserdem Feuille-
tons für die Vossische Zeitung aus
einem inneren Drange schreiben musste,
konnte er sich persönlich um die Fest-
stellung der Vaterschaft des geliebten ku-
bistischen Kindes nicht sehr bemühen. Er
ging immerhin einmal in ein Kaffeehaus,
wo das Künstlervölkchen zu sitzen pflegt,
und besann sich zur unrechten Zeit, dass
er ja bereits vor 1914 etwas von Herrn
Matisse gehört hatte. Herr Matisse war
indessen von der deutschen Tagespresse
zum Vater des Kubismus ernannt worden,
trotzdem er daran unschuldiger als das
neugeborene Kind ist. Herr Doktor Grau-
toff liess sich deshalb von Herrn Matisse
sexuell aufklären, hörte, dass Picasso wie
Ingres male und schrieb sein Buch. Bilder
von Picasso hat Herr Doktor Grautoff nicht

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