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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Viertes Heft
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Blümner, Rudolf: Die Sache mit Fritz Stahl
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0094

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Die Sache mit Fritz Stahl
Die Sache mit Fritz Stahl ist nicht so lustig
wie die Sache mit Lola, dafür aber ernst-
hafter als die Sache mit Ingres. Ueber die
Sache mit Ingres erzählt Fritz Stahl im
Berliner Tageblatt einen Witz, den er amü-
sant findet. Jemand hat in einer Gesell-
schaft, in der vom Umschwung der Kunst
gefaselt wurde, gefragt: „Was ist das eigent-
lich für eine Sache mit Ingres?“ Dieses
ist zwar nun weder ein amüsanter Witz,
noch überhaupt ein Witz. Aber Fritz Stahl
hat die Geschichte erfunden, um der demo-
kratischen Partei Deutschlands die Sache
mit Ingres erklären zu können. Er ist der
rechte Mann dazu. Denn er hat auch die
Sache mit Ingres erfunden. Allerdings
nicht ganz frei erfunden, da der Witz fran-
zösischen Ursprungs ist. Aber Fritz Stahl
hat aus dem französischen Bonmot ein tri-
viales Lustspiel für liberale Leute gemacht.
Er spielt selbst die Hauptrolle, und jedes-
mal, wenn das Publikum vor langer Weile
einzuschlafen droht, tritt er bis vorn an die
Rampe des Berliner Tageblatts und sagt
mit zwerchfellerschütternder Komik: „Pi-
casso malt jetzt wie Ingres.“ Die ganze
demokratische Partei Deutschlands fängt
zu lachen an, aber rechts und links rührt
sich keine Hand. Selbst die ergrautesten
Museumsleiter schütteln die Köpfe, und ein
Volksaberglaube ist im Werden, dass Fritz
Stahl schon hoch in den Siebzigern sei.
Immerhin, sagen die Einen, er ist konsequent.
Er hat zwar die Malerei nie verstanden,
aber er tut auch jetzt nicht so, als ob er
sie verstehe. Andere freilich meinen, es
sei ein Kunstskandal, wenn durch das viel-
gelesene Berliner Tageblatt kindische Mär-
chen von Picasso und Ingres erzählt werden.
Von Paris kam die Nachricht: „Picasso
malt jetzt wie Ingres.“ Von Paris kam die
Nachricht! Der französische Botschafter
liess Fritz Stahl zu sich kommen und über-
reichte ihm eine Note der französischen
Regierung: „Picasso malt jetzt wie Ingres.“
Das deutsche Publikum glaubt Fritz Stahl
kein Wort, aber Fritz Stahl glaubt, dass
es nur einen Fritz Stahl gibt. Auch in
Paris scheint einer zu sitzen. Der hat das
Bonmot von Picasso und Ingres erfunden,
und der deutsche Fritz Stahl hat die Sache
mit Ingres daraus gemacht, um immer

wieder an die Rampe des Berliner Tage-
blatts zu treten und furchtbar komisch zu
sagen: „Auch Archipenko malt jetzt wie
Ingres.“ Alles, was, Gott sei Lob und Dank,
nicht kubistisch ist, nennt Fritz Stahl „wie
Ingres.“ Er soll recht fleissig die Sturm-
Ausstellungen besuchen. Da wird er stau-
nen, wer jetzt alles wie Ingres malt. Auch
Kandinsky malt wie Ingres. Und die Venus
von Archipenko sieht auch aus wie Ingres,
von vorne und von hinten. Aber die hat
Fritz Stahl vielleicht garnicht gesehen.
Denn jetzt verfällt er wieder in sein altes
Laster, die köstlichen Minuten, die ihm
seine Beschäftigung mit Ingres übrig lässt,
mehr der Lektüre des Sturm als der Be-
trachtung der Bilder zu widmen. Aber
auch den Sturm hat Fritz Stahl nur ober-
flächlich gelesen und nicht einmal das
Porträt studiert, das Walden im Märzheft
des Sturm von ihm ä la Ingres gezeichnet
hat. Sonst würde er sich keine Wirkung
mehr von seinen Ingres-Witzen versprechen.
Sonst wüsste er endlich, dass erstens Picasso
so wenig wie Archipenko ä la Ingres malt,
dass zweitens Picasso jetzt wie der Kubist
Gleizes malt, und dass es drittens für die
Entwicklung des Kubismus gleichgültig ist,
ob Picasso so oder so malt. Wenn Fritz
Stahl vom Kubismus hört, sagt er: „Aha,
weiss schon, Picasso!“ Jetzt rächt es sich,
dass er jahrelang vor der neuen Kunst die
Augen zugemacht hat. In einer Zeit, in
der die Gewalt der expressionistischen
Kunst selbst die Widerstrebenden bezwingt,
da der Geist des Kubismus die ganze eu-
ropäische Malerei beherrscht, in einer
solchen Zeit lässt der Verlag Rudolf Mosse
Fritz Stahl von „rettungslos verlorenen
Witzen“ schreiben. Er gibt Theorien über
Kubismus zum Besten, die ihm zwölijährige
Kinder korrigieren könnten. Er sieht sich
zweihundert Bilder von Iwan Puni in fünf
Minuten an und schreibt, es sei nichts da-
rüber zu sagen. Da hat er Recht. Man
kann nicht über das schreiben, wTas man
nicht gesehen hat. Leider tut er es doch.
Und man kann nicht einmal sagen, dass
er aus Verzweiflung va banque spielt. Denn
er hat schon seit Jahren kein Ansehen
mehr zu verlieren. Fritz Stahl ist in phy-
sischem Sinne schwerhörig. Das ist ein
Leiden und ein Unglück, um das ich ihn
weiss Gott bemitleide. Aber sonst müsste

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