Zur Geschichte des Sturm und
des deutschen Journalismus
Briefe gegen Paul Westheim
Zehnter Brief
Nicht der äussere Umstand, dass ich zum
zehnten Mal gegen Sie schreibe, sondern
ein rhythmisches Bedürfnis drängt mich,
selbst einmal Atem zu holen und zurück-
zuschauen. Und während ich mich be-
trachte, finde ich schon bestätigt, was ich
in meinem ersten Brief als Motto setzte:
„Wer mit Schmutz kämpft, wird ihn,
Sieger oder Besiegter, besudelt verlassen.“
Aber ich weiss nicht, wie ich es bei einem
solchen Kampf vermeiden soll, von Dreck-
spritzern getroffen zu werden. Sowohl „Ihr“
Fall Marc wie „Ihr“ Fall Gampendonk haben
bewiesen, wie notwendig es war, bei dem
Wegräumen die Schmutzhaufen so umständ-
lich wie gründlich anzupacken. Aber eben
meine Gründlichkeit mag es auch verursacht
haben, dass die Leser das Ganze teilweise
aus dem Gesicht verloren und sich nicht
genügend einprägten, um was es noch immer
geht. Sie erinnern sich, dass ich mir eine
zeitlang einbildete, mit einigen satirischen
Bemerkungen Ihnen das Handwerk legen
zu können. Ich hatte Sie schlecht gekannt.
Denn dann kam Ihre Leichenfledderer-
Postkarte. Und erst, als Sie sich weigerten,
Ihre Pflicht zu tun und an der Stelle, wo
Sie Ihre Verdächtigungen hingefetzt hatten,
Ihre abscheuliche Verleumdung zu bekennen,
da erkannte ich Sie ganz. Da wusste ich,
dass die Abrechnung mit einem Jahrzehnt
deutscher Kunstkritik nur den Titel Ihres
Namens tragen könne. Ich schlug zunächt
da zu, wo ich Lust hatte, ohne mich um
Ihr Geschrei zu kümmern, ich hätte einige
Haufen schmutziger Verdächtigungen darum
anerkannt, weil ich nicht Hände genug
hatte, sie gleichzeitig mit den andern weg-
zuräumen. Heute, da wir die Fälle Marc
und Campendonk hinter uns haben und
meine Schläge Sie und zu meinem wahr-
haften Bedauern auch Campendonk so
schwer getroffen haben, dass Sie wenigstens
über diese Fälle nur noch wimmern,
heute kann ich es mir zumuten, einmal den
mühsamen Weg von vorn zu gehen. Sie
werden es dabei ertragen müssen, manches
zum zweiten Mal zu vernehmen. Und da
ich entschlossen bin, es Ihnen ein drittes
und viertes Mal und noch öfter zu sagen,
so mögen Sie nur auch diesen Brief sorg-
fältig lesen. Sie werden mir zutrauen, dass
ich einiges hinzufüge, auf das Sie nicht ge-
fasst waren.
Als Herwarth Walden vor zehn Jahren den
führenden Künstlern der neuen Malerei, da
sie sich fast überall abgewiesen sahen, eine
Gelegenheit gab, ihre Werke zu zeigen, ge-
hörten Sie zu den Kritikern, die sich über
die neue Kunst so äusserten, wie Kritiker
zu allen Zeiten über Neues und Grosses
geurteilt haben und in Ewigkeit urteilen
werden. Sie lehnten diese Kunst ab. Und
Sie taten das in einem Stil und mit Aus-
drücken, die sich von denen anderer Kunst-
kritiker an Roheit und Unfähigkeit des Ur-
teils durch nichts unterschieden. Aber da
Sie mit Beharrlichkeit den Missverstehenden
spielen, muss ich Ihnen heute recht aus-
drücklich und zweifelsfrei eine Konzession
machen. Ich will Ihnen sagen, dass Sie in
der Roheit der gewählten Schimpfworte,
in der vollkommenen Beschränktheit des
Urteils damals von Einigen oder Vielen
übertroffen wurden. Diesem merkwürdigen
Zugeständnis muss ich aber gleich etwas
viel Merkwürdigeres hinterdreinschicken.
Was ich Ihnen eben sagte, ist vermutlich
eine Unwahrheit, derenwegen ich alle
Menschen um Verzeihung bitte. Es ist sogar
ganz gewiss eine Unwahrheit. Ich bringe
der Sache dieses Opfer. Diese Unwahrheit
mache ich zur Wahrheit. Ich befehle, dass
es wahr sei. Ich will fest daran glauben,
dass es damals Schriftsteller gegeben hat,
die es im Beschimpfen der neuen Kunst,
der Künstler, des Sturm und Herwarth
Waldens schlimmer getrieben haben als Sie.
Und darum haben Sie ein Recht, zu fragen,
warum man Ihnen Ihre damaligen Urteile
schwerer vorwirft als Anderen. Aber wirft
man Sie Ihnen überhaupt vor? Sie wussten
damals Triftiges gegen die neue Kunst so
wenig einzuwenden wie die Andern. Denn
da Sie die neuen Kunstwerke nicht pur
für die Arbeiten unfähiger oder Schwach-
begabter Maler hielten, sondern für die Pro-
dukte von Clowns, Akrobaten, Schwindlern
und Bluffern, so glaubten Sie zu einer Be-
gründung Ihrer Äusserungen keine Ursache
zu haben. Auch Sie dachten, dass der neu-
modische Schwindel in der kürzesten Zeit
132
des deutschen Journalismus
Briefe gegen Paul Westheim
Zehnter Brief
Nicht der äussere Umstand, dass ich zum
zehnten Mal gegen Sie schreibe, sondern
ein rhythmisches Bedürfnis drängt mich,
selbst einmal Atem zu holen und zurück-
zuschauen. Und während ich mich be-
trachte, finde ich schon bestätigt, was ich
in meinem ersten Brief als Motto setzte:
„Wer mit Schmutz kämpft, wird ihn,
Sieger oder Besiegter, besudelt verlassen.“
Aber ich weiss nicht, wie ich es bei einem
solchen Kampf vermeiden soll, von Dreck-
spritzern getroffen zu werden. Sowohl „Ihr“
Fall Marc wie „Ihr“ Fall Gampendonk haben
bewiesen, wie notwendig es war, bei dem
Wegräumen die Schmutzhaufen so umständ-
lich wie gründlich anzupacken. Aber eben
meine Gründlichkeit mag es auch verursacht
haben, dass die Leser das Ganze teilweise
aus dem Gesicht verloren und sich nicht
genügend einprägten, um was es noch immer
geht. Sie erinnern sich, dass ich mir eine
zeitlang einbildete, mit einigen satirischen
Bemerkungen Ihnen das Handwerk legen
zu können. Ich hatte Sie schlecht gekannt.
Denn dann kam Ihre Leichenfledderer-
Postkarte. Und erst, als Sie sich weigerten,
Ihre Pflicht zu tun und an der Stelle, wo
Sie Ihre Verdächtigungen hingefetzt hatten,
Ihre abscheuliche Verleumdung zu bekennen,
da erkannte ich Sie ganz. Da wusste ich,
dass die Abrechnung mit einem Jahrzehnt
deutscher Kunstkritik nur den Titel Ihres
Namens tragen könne. Ich schlug zunächt
da zu, wo ich Lust hatte, ohne mich um
Ihr Geschrei zu kümmern, ich hätte einige
Haufen schmutziger Verdächtigungen darum
anerkannt, weil ich nicht Hände genug
hatte, sie gleichzeitig mit den andern weg-
zuräumen. Heute, da wir die Fälle Marc
und Campendonk hinter uns haben und
meine Schläge Sie und zu meinem wahr-
haften Bedauern auch Campendonk so
schwer getroffen haben, dass Sie wenigstens
über diese Fälle nur noch wimmern,
heute kann ich es mir zumuten, einmal den
mühsamen Weg von vorn zu gehen. Sie
werden es dabei ertragen müssen, manches
zum zweiten Mal zu vernehmen. Und da
ich entschlossen bin, es Ihnen ein drittes
und viertes Mal und noch öfter zu sagen,
so mögen Sie nur auch diesen Brief sorg-
fältig lesen. Sie werden mir zutrauen, dass
ich einiges hinzufüge, auf das Sie nicht ge-
fasst waren.
Als Herwarth Walden vor zehn Jahren den
führenden Künstlern der neuen Malerei, da
sie sich fast überall abgewiesen sahen, eine
Gelegenheit gab, ihre Werke zu zeigen, ge-
hörten Sie zu den Kritikern, die sich über
die neue Kunst so äusserten, wie Kritiker
zu allen Zeiten über Neues und Grosses
geurteilt haben und in Ewigkeit urteilen
werden. Sie lehnten diese Kunst ab. Und
Sie taten das in einem Stil und mit Aus-
drücken, die sich von denen anderer Kunst-
kritiker an Roheit und Unfähigkeit des Ur-
teils durch nichts unterschieden. Aber da
Sie mit Beharrlichkeit den Missverstehenden
spielen, muss ich Ihnen heute recht aus-
drücklich und zweifelsfrei eine Konzession
machen. Ich will Ihnen sagen, dass Sie in
der Roheit der gewählten Schimpfworte,
in der vollkommenen Beschränktheit des
Urteils damals von Einigen oder Vielen
übertroffen wurden. Diesem merkwürdigen
Zugeständnis muss ich aber gleich etwas
viel Merkwürdigeres hinterdreinschicken.
Was ich Ihnen eben sagte, ist vermutlich
eine Unwahrheit, derenwegen ich alle
Menschen um Verzeihung bitte. Es ist sogar
ganz gewiss eine Unwahrheit. Ich bringe
der Sache dieses Opfer. Diese Unwahrheit
mache ich zur Wahrheit. Ich befehle, dass
es wahr sei. Ich will fest daran glauben,
dass es damals Schriftsteller gegeben hat,
die es im Beschimpfen der neuen Kunst,
der Künstler, des Sturm und Herwarth
Waldens schlimmer getrieben haben als Sie.
Und darum haben Sie ein Recht, zu fragen,
warum man Ihnen Ihre damaligen Urteile
schwerer vorwirft als Anderen. Aber wirft
man Sie Ihnen überhaupt vor? Sie wussten
damals Triftiges gegen die neue Kunst so
wenig einzuwenden wie die Andern. Denn
da Sie die neuen Kunstwerke nicht pur
für die Arbeiten unfähiger oder Schwach-
begabter Maler hielten, sondern für die Pro-
dukte von Clowns, Akrobaten, Schwindlern
und Bluffern, so glaubten Sie zu einer Be-
gründung Ihrer Äusserungen keine Ursache
zu haben. Auch Sie dachten, dass der neu-
modische Schwindel in der kürzesten Zeit
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