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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Zweites Heft
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Walden, Herwarth: Kubismus in Stahl
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0038

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angesehen. Wusste er doch ausserdem aus
Berlin, dass Picasso „zerlegte Geigen“ male.
Es war zwar eine Mandoline, aber man
streicht sich eben so darüber hinweg. Dieses
Buch des Herrn Grautoff hat nun Herr
Stahl studiert und hieraus eine „Geschichte
des Kubismus“ für das Berliner Tageblatt
verfasst, nicht ohne vorher die Ausstellung
der Kubisten im Sturm besucht zu haben.
Herr Stahl stellt fest, dass der Kubismus
in Paris tot, und es für ihn daher wieder
eine Lust zu leben ist. Der Grautoffdoktor
hat es gesagt. Auch die Kunst beginnt
wieder zu leben, weil Picasso wie Ingres
malt. Herr Stahl hat immer gesagt, schon
vor seinem Tode, dass das junge Volk wie
Ingres malen müsse. Oder wie Rembrandt,
der Erzieher. Oder wie sonst irgend ein
toter Maler. Aber Herr Stahl ist zu früh
erwacht, oder Herr Grautoff zu früh aus
Paris abgereist. Denn ich bin jetzt in Paris
gewesen, zwar nicht in dem Kaffeehaus, wo
das Künstlervölkchen sitzt. Ich hatte auch
keinen Hausstand in Paris aufzulösen, fand
daher die Zeit, mir Bilder anzusehen. Es
tut mir wirklich für Herrn Stahl und für
Herrn Grautoff leid, aber Picasso malt
wieder kubistisch. Ingres ist verloren. Da-
für malt Picasso jetzt Gleizes. Da staunen
Sie, Herr Stahl, den Namen haben Sie noch
niemals gehört. Und Sie, Herr Doktor
Grautoff, können in Ihrem eigenen Buch
wenigstens eine Abbildung eines Werkes
von Gleizes finden. Sehen Sie sich diese
Abbildung genau einmal an, wenn Sie Zeit
haben, Sie können sich die zweite Reise
nach Paris sparen, und Sie wissen genau,
wie Picasso malt. Das Bild Ihrer Abbil-
dung können Sie in der Ausstellung des
Sturm sehen (Der Sturm ist nämlich eine
ständige Ausstellung zu Berlin). Aber dazu
werden Sie kaum Zeit haben, da Sie Vor-
träge über Kubismus halten müssen. Also,
Herr Stahl, aus ist es mit dem Ingres
bei Picasso. Und nun werde ich Ihnen
etwas ins Ohr schreien, dass Sie sprachlos
werden: Picasso ist nie eine primäre künst-
lerische Erscheinung gewesen. Natürlich
kann man von Ihnen nicht verlangen, dass
Sie jedes Jahr nach Paris fahren, nur um fest-
zustellen, ob und wie weit sich das junge
Volk von Ingres entfernt. Natürlich kann
man von Ihnen als Kunstkritiker nicht ver-
langen, dass Sie sich jede Ausstellung des

Sturm ansehen. Denn schliesslich haben
Sie wichtigere Dinge zu tun als über Kunst
zu schreiben. Was soll denn sonst aus
Rembrandt und Bismarck werden, von
Böcklin ganz zu schweigen. Allerdings
hätten Sie dann schon seit vielen Jahren
Bilder von Gleizes gesehen, der Sie zwar
persönlich nichts angeht, dafür aber kein
Bild von Picasso. Da die Ausstellung Der
Sturm die Eigentümlichkeit hat, nur pri-
märe künstlerische Erscheinungen zu zeigen,
haben wir uns leider sämtliche Perioden
von Picasso versagen müssen, der nur ein
malerisch sehr begabter Anempfinder ist.
Infolgedessen hat sich die übrige deutsche
Kunstkritik, einschliesslich der ganz grossen
Kenner wie Herr Westheim, er hat den
Geburtstag des Kubismus auf das Jahr 1919
verlegt, stets darüber beschwert, dass der
Meister des Kubismus im Sturm nicht aus-
gestellt wird. Da staunste, sagt der Ber-
liner, während Herr Stahl behauptet, dass
der Berliner Maske sagt. Aber der Berliner
sagt niemals Maske, Herr Stahl, hinter ihr
sucht man sich in der Redaktion des Ber-
liner Tageblatts zu verstecken. Aber man
findet ihm doch. Theata, sagt der Berliner.
Son Theata. Der Berliner sagt auch nicht
Palette. Er sagt Bild. Tableau. Da staunste,
Herr Stahl. Um nach dem bischen Fran-
zösisch wieder hochdeutsch zu reden:
Picasso beweist nichts für oder gegen den
Kubismus, oder noch hochdeutscher gesagt:
für oder gegen die Kunst. Herr Stahl hin-
gegen ist ein Gemütsmensch. Ihm bricht
das Herz, dass die Kubisten alles mit der
kalten Lamäng malen und nicht mit dem
Gemüt. Das würde Herr Stahl tun, wenn
er Maler wäre. Da uns ein gütiger Gott
das versagt hat, bleibt ihm nichts übrig,
er muss als Kritiker mit der Seele sprechen,
wie einst im Mai. Und Herr Stahl hat
nicht nur eine Seele, die ihn vor anderen
Menschen auszeichnet und die er den Lesern
des Berliner Tageblatts ausmalt. Herr Stahl
ist auch Denker. Es ist nicht auszumalen,
was der Herr Stahl sich alles ausdenken
kann. Er denkt natürlich mit der Seele,
nicht ohne einen schlichten französischen
Einschlag: „Wenn Künstler denken, passiert
ja meistens ein Malheur“. Herr Stahl ist
kein Künstler und ihm passiert daher das
Malheur, Witze des Ulk für Denktätigkeit
zu halten. Aber wie unser Berliner sagt:
 
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