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Zeitschrift für christliche Kunst — 3.1890

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https://doi.org/10.11588/diglit.3822#0092

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149

1890. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 5.

150

Die 19 in der Handschrift zerstreuten grofsen
und kleinen Initialen stehen auf gleicher Höhe
mit der vorhin beschriebenen Ausstattung der-
selben, welche aus der Hand eines hochgebil-
deten Künstlers hervorgegangen ist.

Es erübrigt noch die Beantwortung der
beiden Fragen: Welchem Zwecke diente das
Buch, und woher stammt es?

Als ein Sacramentarium dürfte es nicht zu
bezeichnen sein. Zwar ist die gröfsere Mehr-
zahl der 141 Orationen, abgesehen von wenigen,
den Sinn nicht beeinträchtigenden Textabwei-
chungen, in dem von dem Mauriner Nikolaus
Hugo Menard 1642 veröffentlichten sog. sacra-
mentarium gregorianum enthalten,') welches
sich in der Klosterkirche St. Pete! zu Corbie
befand, und, da sein Vorhandensein bis in die
Zeit des hl. Eligius, Bischofs von Noyon (- 658},
verbürgt war, irrthümlicherweise lange für das
älteste Werk dieser Art gehalten wurde. Es fehlen
jedoch der Hildesheimer Handschrift die Haupt-
bestandteile der Sacramentarien: Präfationen,
Mefscanon, Kalendarium und Nekrologium, wie
denn auch der Bilderschmuck grundverschieden
von demjenigen ist, der sich in einer Anzahl
von liturgischen Büchern dieser Gattung findet.

Eher berechtigt dürfte sich die Annahme
erweisen, dafs uns hier ein kctionarium und
collectarium erhalten ist, also eine Sammlung
gebetartiger Lesungen geringeren Umfanges,
welche Zusätze der festen Bestandteile des
kirchlichen Psalteriums bildeten, und beim Chor-
gottesdienste von dem hcbdomadarius laut vor-
zutragen waren: die mpitula der horae cano-
mcae und collectae (oraHernes).

Unter den letzteren befindet sich eine -
und zwar seltenere - zum Feste des hl. Gallus,
sowie mehrere auf den hl. Benediktus, und man
konnte daraufhin versucht sein, der Vermuthung
Raum zu geben, dafs die Handschrift einem
Benediktiner-Kloster angehört habe, umsomehr,
als H.ldesheim bei St. Michael und St. Gode-
hard zwei grofse und berühmte Genossenschaften
dieses Ordens besafs, und auch mit anderen
vielfachen Verkehr unterhielt.

Inhalt und Ausstattung des Kodex deuten
darauf hm, dafs er nur zum Gottesdienst an
hohen Festen in Gebrauch genommen wurde,
und hieraus erklärt sich wohl auch die gute
Erhaltung desselben.

') Vergl. Migne palrohgiae <ursus compUtus.

Dafs die Handschrift, wenigstens was die
bildliche Ausschmückung derselben angeht, nicht
unter der Hand eines einheimischen Künstlers
entstanden ist, vermag ein Vergleich mit den
im Hildesheimer Domschatze aufbewahrten Kir-
chenbüchern des XL Jahrh., deren Anfertigung
in der Schule des hl. Bernward aufser allem
Zweifel steht, zur Genüge zu beweisen. Diese
verhältnifsmäfsig frühen Erzeugnisse der christ-
lichen Kunstthätigkeit in Norddeutschland be-
kunden bei aller Gedankentiefe der Gesammt-
darstellung doch eine erhebliche Unvollkommen-
heit in Zeichnung und Malerei, z. B. dicke
Umrifslinien, dunkle, durch Schwarz verstärkte
Schatten, geringe künstlerisch abgewogene
Farbenstimmung, schablonenmäfsige Verzierung
durch Punktmuster, — Mängel, welche der zeich-
nerisch wie malerisch weit vorgeschrittenen Aus-
stattung unseres Kodex nicht beiwohnen.

Hildesheims Geistlichkeit verknüpften schon
früh innige Beziehungen mit klösterlichen Nie-
derlassungen, in welchen unter der Herrschaft
der Karolinger und Ottonen Künste und Wissen-
schaften sich zu reicher Blüthe entfalteten. So
kamen die Bischöfe Altfried und Welpert, die
Aebte Conrad IL und Hugold aus Corvey, Ot-
win und Osdach, die Vorgänger des kunst-
sinnigen Oberhirten S. Bernward, aus Reichenau,
und der letztere pilgerte gelegentlich einer 1007
nach Frankreich unternommenen Reise nach
dem hochberühmten St. Martinskloster zu Tours.
Möglich, dafs unter solchen Umständen das eine
oder andere Werk der Kunst seinen Weg nach
den Klöstern und dem Mariendome der Bischofs-
stadt an der Innerste gefunden, möglich auch,
dafs Künstler selbst dorthin übersiedelten. Mel-
det doch der durch seine Schriften und Amts-
thätigkeit hervorragende Benediktiner Hermann
der Lahme auf Reichenau, dafs dort zu Beginn
des XL Jahrh. in Folge von Zwistigkeiten ein
grofser Abgang von Männern, Büchern und
Kirchenschätzen stattgefunden habe.2)

Der Beachtung werth ist weiterhin die That-
sache, dafs sowohl S. Bernward als auch sein Nach-
folger S. Godehard in reger Beziehung zur deut-
schen Kaiserfamilie standen, ersterer sogar Erzie-
her Kaiser Otto III. gewesen ist. Dieser, wie sein

2) Verg]. Adler „Die Klosler-und Stiftskirchen auf
der Insel Reichenau". Nach einer schätzenswerthen
Mittheilung aus St. Gallen sollen die Bilder unseres
Kodex grofse Aehnlichkeit mit solchen in Handschriften
der dortigen Stiftsbibliothek besitzen.
 
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