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Zeitschrift für christliche Kunst — 14.1901

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Beissel, Stephan: Zur Geschichte der Tiersymbolik in der Kunst des Abendlandes
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https://doi.org/10.11588/diglit.4055#0185

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283

1901. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 9.

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predigen. Darf man darum überall allen an
Chorstühlen angebrachten Grotesken, Mifs-
geburten, Thieren, Vögeln und menschlichen
Figuren eine tiefere Bedeutung unterschieben?15)
Haben denn die Thiere in den Geweben des
Mittelalters, besonders in den nach morgen-
ländischen Mustern kopirten, durchgängig einen
andern Zweck, als mit den Pflanzentheilen,
womit sie abwechseln, die Fläche durch leb-
hafte und ansprechende Farben und durch
schöne Linien zu füllen? Aehnliches gilt von
den verschiedenartigsten Wasserspeiern der
gothischen Kathedralen und von den Unholden,
welche auf ihren Fialen und Brüstungen hocken.
Die meisten sind kaum mehr als frische Kinder
munterer Laune. Sobald man sie mustert und
im Einzelnen betrachtet, ist es einfachhin un-
möglich, alle sammt und sonders als ernste,
gehaltvolle Bilder der bösen Mächte zu deuten.
Wer wird nach genauerer Prüfung die Drachen,
Schlangen und geschweiften Fabelwesen mit
ihren Kobolden und Reitern, wodurch Leuchter-
füfse des XII. und XIII. Jahrh. so reich ver-
ziert sind, wirklich immer als Symbole licht-
scheuer Mächte anerkennen, die im Bunde mit
der Unterwelt gegen Christus, die lebendige
Sonne ewiger Wahrheit kämpfen?16) VVer freilich
poetisch gestimmt ist und wenig sah oder las,
dann aber mit Hilfe einiger Bücher in seinem
Zimmer sich das Mittelalter zurechtlegte und
seine Ideen in die Monumente hineinerklärt,
ist bald fertig. Er versuche, mit seinem Notiz-
buche durch eine Reihe von Museen und Kathe-
dralen zu gehen und sich an den Gebäuden,
Chorstühlen und Leuchtern alle derartigen Ge-
bilde aufzuzeichnen. Wenn er viele mit einander
vergleicht, wird er sehen, dafs die Zahl derer,
welchen ein symbolischer Sinn unterliegt, nur
einen kleinen Bruchtheil bildet. An vielen
Leuchtern nehmen oft hh. Personen und Szenen
aus der hl. Schrift denselben Ort ein, der an
andern jenen Fabelwesen zugewiesen ist, ja die
hh. Personen sind mitten zwischen sie gestellt,
ohne dafs sie wider dieselben kämpfen.17)

") Eine auf den Chorstühlen zu Landshut ange-
brachte Inschrift scheint zu sagen, alle Pflanzen,
Vögel und Thiere seien dort nur ausgeschnitzt, um
den hl. Martin, den Patron der Kirche, durch ihre
Gegenwart zu ehren. Otte »Kunst-Archäologie«,
5. Aufl. I, 286, 494.

16) Cahier »Melanges« I, 75 s., 91s.

17) Reich an Szenen der hl. Schrift und an sym-
bolischen Beziehungen ist z. B. der grofsartige Leuchter

Man bemerke wohl, dafs in keiner Weise
geleugnet werden soll, viele solcher Gebilde
seien mehr als geistreiche Spielereien bildender
Künstler, die ihrer Phantasie freien Lauf gönnten.
Es gibt unter ihnen zweifelsohne manche, die
wiiklich eine Idee versinnbilden sollen. Da
sind zuerst jene zu nennen, die nach Art
eines Rebus aufgefafst werden müssen. Eine
Reihe von Psalmenbüchern des IX. bis XII. Jahrh.
ist von ihnen gefüllt.

Die Miniaturen solcher Handschriften „über-
tragen die Worte des Textes unmittelbar in
ein sinnliches Bild, zeichnen einen Löwen,
wenn im Text von einem Löwen, bogen-
schiessende Teufel, wenn von den Pfeilen der
Bösen die Rede ist". „Beim 1. Vers des
24. Psalmes: „Zu Dir, o Herr, erhebe ich meine
Seele", sieht man vor Gott einen Mann knieen,
aus dessen Mund die als kleines Kind ge-
bildete Seele hervorgeht. Sie erhebt ihre Hände
zu Christus, der dieselben ergreift. Psalm 27, 7
ist dadurch versinnlicht, dafs bei den Worten:
„Mein Fleisch blühte auf", ein nackter Mann
eine Blume hält und zwischen Pflanzen einher-
schreitet. Bei den Worten des 31. Psalmes:
„Mit Zaum und Gebiss bezwinge die Backen
derer, die sich dir nicht nahen; viele Geifseln
kommen über den Sünder", malt der Illu-
strator Christus, der mit einer Art Peitsche
oder Geifsel gleich einem Kutscher oben sitzt
und zwei Zügel hält, deren Ende im Munde
zweier Sünder befestigt sind. Beim Vers des
38. Psalmes: „Ich will achten auf meine Wege,
damit ich nicht fehle mit meiner Zunge", geht
David über einen Weg und zeigt er mit der
rechten Hand auf seine Zunge, mit der linken
auf diesen Weg. In einer andern Miniatur
streckt er seine Zunge heraus und weist er
mit der Rechten auf sie hin, indem er zu Gott
aufblickt. Weil der 12. Vers des 65. Psalms
sagt: „Wir gingen durch Feuer und Wasser
und du führtest uns heraus", zeichnet der Mi-
niator einen Mann, den Christus zu sich hinauf-
zieht, indem unter dessen Füfsen Feuer und
Wasser sichtbar wird. Bei dem Verse: „Rette
mich, Herr, weil die Wasser steigen bis zu
meiner Seele", erhebt der Sänger, bis zur Hüfte
im Wasser stehend, seine Hände flehentlich zu
Gott u. s. \v. So geht es weiter von Psalm zu

im Dome zu Mailand. Vergl. Didron »Annales«.
XIII pl. p. 5, 177, 262 etc.
 
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