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1903.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 10.
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mutter, eine Fügung, die ihr viel Mühen und
Sorgen und manche harte Beschwerde machen
sollte, und darum sehen wir denn sich rings
um das Bild Ägyptens stachelige Disteln mit
ihren trüben Blüten ausbreiten.
Den Mittelpunkt des Teppichs nimmt Jeru-
salem ein. Mit Recht. Hier wird Maria von
ihren Eltern im Tempel dargestellt und den
Tempeljungfrauen eingereiht. Im Tempel zu Je-
rusalem bringt sie das Opfer der Reinigung dar,
hier hört sie die Weissagung von dem Schwert
der Schmerzen, das ihr Herz durchbohren wird.
Zu Jerusalem verliert sie den zwölfjährigen
Jesusknaben, bis sie ihn nach drei bangen Tagen
im Tempel inmitten der Gesetzeslehrer wieder-
findet. Zu Jerusalem erblickt Maria ihren Sohn
in den Händen seiner hafserfüllten Feinde und
ist Zeugin, wie er, mit dem Kreuze beladen,
nachCalvaria geführt wird und dort am Kreuze
verblutet. Zu Jerusalem sieht sie ihn dann
glorreich erstehen und auf dem Ölberg zum
Himmel auffahren; im Abendmahlssaal daselbst
kommt der hl. Geist am Pfingstfest über Maria
und die um sie versammelten Apostel herab;
zu Jerusalem schaut sie die Anfänge der jungen
Kirche, ihr Wachstum, aber auch ihre ersten
Leiden und Kämpfe; zu Jerusalem schliefst
sie ihr wunderbares Leben, um am Ölberg ein
Grab zu finden und von dort durch Gottes
Allmacht bald auch dem Leibe nach in den
Himmel aufgenommen zu werden, von wo ihr
göttlicher Sohn selber aufgefahren war. Zu Je-
rusalem hat Maria, als sie auf Calvaria unter
dem Kreuze stand, den furchtbarsten Kampf
heldenhaft durchstritten, hier ward ihr die
Vollendung und der ewige Siegeslohn zuteil;
darum wurden Palmen, Symbole des Sieges
und Triumphes, den Zwickeln um den Vier-
pafs herum eingefügt.
So enthält also der Teppich wirklich ein
Marienleben, wenngleich nicht in Szenen, wie
gewöhnlich, sondern durch Darstellung ihrer
Abstammung, durch die prophetischen Hin-
weise auf ihren wunderbaren Beruf und durch
Wiedergabe der Orte, an denen sich ihr heiliges
Leben entfaltete. Die Pflanzenmotive, welche
die Orte begleiten, wollen das Bild vervoll-
ständigen, indem sie auf die besonderen Seiten
im Tugendleben und Wirken Marias, welche
gerade für die betreffenden Orte charakteristisch
sind, symbolisch hinweisen.
Am Kopfende des Teppichs gewahrt man
in den Spruchbändern der Borte rechts und
links von dem in der Mitte angebrachten
Wappen Aachens den Grufs des Engels. Der
Widmung in der Umrahmung des Quadrates
im Mittelfeld fügen die Stifterinnen hier ihren
frommen Grufs an die Gnadenvolle bei. Da-
bei deutet das Aachener Wappen bezeichnend
an, dafs es „Töchter Aachens" sind, welche
Maria des Engels Worte zurufen. Damit aber
auch die Bitte und die Empfehlung in den
mütterlichen Schutz der Gottesmutter nicht
fehlen, so flehen die Geberinnen in der In-
schrift an der Vorderseite des kleineren Tep-
pichs, welche gleichsam den Übergang zum
Chorteppich bildet, mit den Worten der Kirche:
„Unter deinen Schirm fliehen wir, o heilige
Gottesgebärerin."
Der Teppich ist von bedeutender Wirkung.
Es liegt das zum nicht geringen Teil an der
Klarheit und Bestimmtheit der Zeichnung. In
festen, deutlichen Linien tritt die Gliederung
des Bildwerkes in die Erscheinung; kräftig und
sicher heben sich die Ornamente, die In-
schriften und die bildlichen Darstellungen vom
Grund und voneinander ab. Alles Kleinliche
und Verwirrende wurde fast ängstlich ver-
mieden. Dabei wurde in der Formengabe des
bildlichen Schmuckes nach Kräften der beim
Teppich zur Anwendung gebrachten Technik
Rechnung getragen. Arbeiten, die im gewöhn-
lichen Kreuzstich ausgeführt werden, erheischen,
wenn sie wirken sollen, eine ganz andere Form-
sprache, als solche, die in vollkommeneren
Sticktechniken hergestellt werden. Ein reich
bewegtes, lebendiges, fein durchgearbeitetes Or-
nament wird, im Kreuzstich gestickt, allzeit nur
mangelhaft zur Geltung kommen. Der Kreuz-
stich will eine einfache, ruhige, kräftige, grofs-
zügige Zeichnung, bei welcher nach Möglich-
keit nur gerade und gebrochene Linien verwertet,
krumme aber tunlichst vermieden sind. Für
figürliche Darstellungen ist er wenig geeignet.
Es wurden darum die Bilder der Sibyllen und
Propheten nicht im Kreuzstich hergestellt,
sondern von den Schwestern vom Armen
Kinde Jesu in meisterhafter Weise in den bei
Bildstickereien gebräuchlichen Techniken aus-
geführt, eine Praxis, die für ähnliche Werke
aufc dringendste zur Nachahmung empfohlen
1903.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 10.
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mutter, eine Fügung, die ihr viel Mühen und
Sorgen und manche harte Beschwerde machen
sollte, und darum sehen wir denn sich rings
um das Bild Ägyptens stachelige Disteln mit
ihren trüben Blüten ausbreiten.
Den Mittelpunkt des Teppichs nimmt Jeru-
salem ein. Mit Recht. Hier wird Maria von
ihren Eltern im Tempel dargestellt und den
Tempeljungfrauen eingereiht. Im Tempel zu Je-
rusalem bringt sie das Opfer der Reinigung dar,
hier hört sie die Weissagung von dem Schwert
der Schmerzen, das ihr Herz durchbohren wird.
Zu Jerusalem verliert sie den zwölfjährigen
Jesusknaben, bis sie ihn nach drei bangen Tagen
im Tempel inmitten der Gesetzeslehrer wieder-
findet. Zu Jerusalem erblickt Maria ihren Sohn
in den Händen seiner hafserfüllten Feinde und
ist Zeugin, wie er, mit dem Kreuze beladen,
nachCalvaria geführt wird und dort am Kreuze
verblutet. Zu Jerusalem sieht sie ihn dann
glorreich erstehen und auf dem Ölberg zum
Himmel auffahren; im Abendmahlssaal daselbst
kommt der hl. Geist am Pfingstfest über Maria
und die um sie versammelten Apostel herab;
zu Jerusalem schaut sie die Anfänge der jungen
Kirche, ihr Wachstum, aber auch ihre ersten
Leiden und Kämpfe; zu Jerusalem schliefst
sie ihr wunderbares Leben, um am Ölberg ein
Grab zu finden und von dort durch Gottes
Allmacht bald auch dem Leibe nach in den
Himmel aufgenommen zu werden, von wo ihr
göttlicher Sohn selber aufgefahren war. Zu Je-
rusalem hat Maria, als sie auf Calvaria unter
dem Kreuze stand, den furchtbarsten Kampf
heldenhaft durchstritten, hier ward ihr die
Vollendung und der ewige Siegeslohn zuteil;
darum wurden Palmen, Symbole des Sieges
und Triumphes, den Zwickeln um den Vier-
pafs herum eingefügt.
So enthält also der Teppich wirklich ein
Marienleben, wenngleich nicht in Szenen, wie
gewöhnlich, sondern durch Darstellung ihrer
Abstammung, durch die prophetischen Hin-
weise auf ihren wunderbaren Beruf und durch
Wiedergabe der Orte, an denen sich ihr heiliges
Leben entfaltete. Die Pflanzenmotive, welche
die Orte begleiten, wollen das Bild vervoll-
ständigen, indem sie auf die besonderen Seiten
im Tugendleben und Wirken Marias, welche
gerade für die betreffenden Orte charakteristisch
sind, symbolisch hinweisen.
Am Kopfende des Teppichs gewahrt man
in den Spruchbändern der Borte rechts und
links von dem in der Mitte angebrachten
Wappen Aachens den Grufs des Engels. Der
Widmung in der Umrahmung des Quadrates
im Mittelfeld fügen die Stifterinnen hier ihren
frommen Grufs an die Gnadenvolle bei. Da-
bei deutet das Aachener Wappen bezeichnend
an, dafs es „Töchter Aachens" sind, welche
Maria des Engels Worte zurufen. Damit aber
auch die Bitte und die Empfehlung in den
mütterlichen Schutz der Gottesmutter nicht
fehlen, so flehen die Geberinnen in der In-
schrift an der Vorderseite des kleineren Tep-
pichs, welche gleichsam den Übergang zum
Chorteppich bildet, mit den Worten der Kirche:
„Unter deinen Schirm fliehen wir, o heilige
Gottesgebärerin."
Der Teppich ist von bedeutender Wirkung.
Es liegt das zum nicht geringen Teil an der
Klarheit und Bestimmtheit der Zeichnung. In
festen, deutlichen Linien tritt die Gliederung
des Bildwerkes in die Erscheinung; kräftig und
sicher heben sich die Ornamente, die In-
schriften und die bildlichen Darstellungen vom
Grund und voneinander ab. Alles Kleinliche
und Verwirrende wurde fast ängstlich ver-
mieden. Dabei wurde in der Formengabe des
bildlichen Schmuckes nach Kräften der beim
Teppich zur Anwendung gebrachten Technik
Rechnung getragen. Arbeiten, die im gewöhn-
lichen Kreuzstich ausgeführt werden, erheischen,
wenn sie wirken sollen, eine ganz andere Form-
sprache, als solche, die in vollkommeneren
Sticktechniken hergestellt werden. Ein reich
bewegtes, lebendiges, fein durchgearbeitetes Or-
nament wird, im Kreuzstich gestickt, allzeit nur
mangelhaft zur Geltung kommen. Der Kreuz-
stich will eine einfache, ruhige, kräftige, grofs-
zügige Zeichnung, bei welcher nach Möglich-
keit nur gerade und gebrochene Linien verwertet,
krumme aber tunlichst vermieden sind. Für
figürliche Darstellungen ist er wenig geeignet.
Es wurden darum die Bilder der Sibyllen und
Propheten nicht im Kreuzstich hergestellt,
sondern von den Schwestern vom Armen
Kinde Jesu in meisterhafter Weise in den bei
Bildstickereien gebräuchlichen Techniken aus-
geführt, eine Praxis, die für ähnliche Werke
aufc dringendste zur Nachahmung empfohlen