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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Schnütgen, Alexander: Schwebende Doppelfigur spätester Gotik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0071

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Abhandlungen.

Seh webende Doppelfigur spätester Gotik.

Mit 2 Abbildungen. (Tafel IV.)

or ungefähr zwei Jahrzehn-
ten erhielt ich von einem
westfälischen Bildhauer die-
se Doppelfigur, die bis in
den Anfang des vorigen
Jahrhunderts in der Kirche
zu Halle sich befunden
haben soll. Sie ist 173 cm hoch, zirkaöO cm breit
und tief, aus einem Eichenstamm geschnitzt,
dessen Wuchs die Gestaltung beeinflußt zu
haben scheint. Gut erhalten hat sie durch
die geschickte Hand von Anton Mormann in
Wiedenbrück kleine Restaurationen erfahren,
unter sorgsamster Berücksichtigung der nicht
unerheblichen Überreste von Polychromie und
ihrem Kreidegrund. — Von der Mondsichel
zu Füßen an trennt sie auf den Seiten ein
breiter, tiefer Schlitz, der die vollrunden, etwas
vorgebeugten Köpfe vollständig scheidet. Die-
sem Schlitz entsprang der vielleicht aus ab-
wechselnd geraden und flammigen vergoldeten
Holzstrahlen bestehende Kranz, der man-
dorlenartig die beiden Hochreliefs trennte und
umfing. — Solche Strahlen figuren, an deren
Konsole gern ganz kurze Armleuchter ange-
bracht wurden, waren namentlich während der
spätgotischen Periode für das Mittelschiff der
Kirche ein besonders in Westfalen und am
Niederrhein sehr beliebter Schmuck, sei es,
daß sie in dieser einfachen Behandlung vom
Triumphbogen herabhingen, zugleich in den
Chor und in das Langhaus wirkend, sei es,
daß sie (vielfach in kleinerer Form) mit einem
eisernen Rosenreifen und geschnitzten Wolken-
kranze umgeben, oder den Mittelpunkt eines
mächtigen Marienleuchters bildend, das Mittel-
schiff zierten. Wer eine solche Figurengruppe
(z. B. Vreden und Kaikar) in ihrer ursprünglichen
Form an der ursprünglichen Stelle gesehen
hat, wird an ihre imposante Wirkung die beste
Erinnerung bewahren. In der Regel ist es auf
der einen wie auf der anderen Seite das schwe-
bende Bild der Gottesmutter, fast in genauer
Wiederholung, wie an einem zweiten, etwas
älteren Exemplar meiner Sammlung, das im
folgenden Heft abgebildet werden soll.

Das hier in die Erscheinung tretende
außergewöhnlich reiche Exemplar zeigt auf der
Vorderseite die mit der Krone und Kette
geschmückte hl. Jungfrau, die auf dem linken
Arm das nackte, seine Armchen ausbreitende
Kind trägt, während ihre kleine, edel ge-
formte Hand zierlich auf ihre Brust gelegt
ist. Das milde Angesicht mit seinen Schlitz-
augen ist von dem üppigen Wellenhaar um-
rahmt; in den etwas schwulstig, aber äußerst
geschickt drapierten Mantel ragt unten der
weibliche Kopf der unter dem Fußtritt sich
krümmenden Schlange hinein. — Die Rückseite
zeigt, in den Umrissen mit der Vorderseite
genau sich deckend, die Gestalt der hl. Mütter
Anna, deren ernsteres Antlitz von der Haube
eingefaßt ist, während der Schulterkragen über
dem Kleide unter dem Mantel sich zeigt.
Auf dem rechten Arme sitzt mit Krone und
in reicher Gewandung die hl. Jungfrau mit
ihrem tunikabekleideten göttlichen Kinde, das
in so kecker wie lieblicher Geberde, das
rechte Ärmchen um den Nacken der Mutter
schlingt, während die linke Hand nach unten
weist, wo in naiver Zärtlichkeit die Großmutter
den bekleideten Fuß ihrer Tochter faßt. Auch
hier läßt der wuchtig behandelte Faltenwurf
an Mannigfaltigkeit und Grazie nichts zu wün-
schen übrig. — Die etwas flachere Behandlung
der mit Wappenschildchen verzierten Konsole
gegenüber der tieferen bei den auf die Wirkung
nach unten berechneten Köpfen bringt auch in
dieser Hinsicht die außerordentliche Geschick-
lichkeit des westfälischen Künstlers zur Geltung,
der um 1520 dieses Doppelbild geschaffen
haben wird. — Eine ganze verwandte, wohl um
ein Jahrzehnt jüngere Doppelmadonna derselben
Hand befindet, bezw. befand sich in der durch
ihre ehemaligen Tafelgemälde berühmt gewor-
denen Klosterkirche zu Liesborn, (vergl. Ludorff,
Die Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen,
Kreis Beckum, Tafel 41); Haltung, Ausdruck,
Kostüm, Draperie, Ikonographie stimmen über-
ein, sie hat den Vorzug, daß Strahlenkranz und
Polychromie erhalten, den Nachteil, daß die
beiden Reliefs auseinander geschnitten sind. Ob
diese tüchtigen Skulpturen in Liesborn, (oder, was
wahrscheinlicher, in Münster) entstanden sind,
bedarf näherer Untersuchung. Schnütgen.
 
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