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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Tepe, Alfred: Rundschau vom Utrechter Domturm
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0072

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1907. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.

100

Rundschau vom Utrechter Domturm.

Mit 3 Abbildungen.

;och ein paar Schritte links um die
Rathausecke, hier fassen wir Posto
und betrachten uns mal erst den
alten Knaben. Das ist ein Bild-

chen! nicht wahr? Im Vordergrund die Häuser
und Häuslein des alten Fischmarktes mit ihren
Fischbänken und Schutzdächern; davor das
Getriebe der Schellfisch und Kabliau bedürftigen
Menschheit und dahinter, darüber der alte
Koloß, hoch in die Luft ragend mit seinen
mächtigen drei Etagen und seinem Dach-
käppchen. Mögen Stürme und Jahrhunderte
ihm allen Zierat abgezaust, sein Königsgewand
mit einem Bettlermantel vertauscht haben, seine
Kerngestalt konnten sie ihm nicht rauben,
nicht seine Majestät, noch seine prächtigen
Verhältnisse. Ob die Utrechter ihn auch lieb
haben, ihren alten Domturm, das Wahrzeichen
ihrer rühm- und schicksalreichen Heimstätte,
der greisen Bischofstadt, wie sie in Wort und
Schrift so oft tituliert wird? Was erzählt er
ihnen nicht aus alter und neuer Vergangen-
heit? Wunderbare Historien und Mären,
vom Papst, der aus ihren Mauern hervorge-
gangen, von ihren Bischöfen und Prälaten,
Helden und Bürgern. Aber er hat nicht allein
seine Lapidarstimme zum Erzählen, er trägt
in der breiten Brust auch eine eherne Sing-
stimme, welche seinen Utrechtern die Zeit
verkündet, sowohl in dumpfen und wuchtigen
Schlägen, als in ernsten und munteren Vor-
spielen. Feierlich hebt er einen Choral an,
wehmütig läßt er alte Volksweisen ertönen,
ja in kecker galanter Laune stimmt er sogar
Don Juans verführerisches Lied an: „Reich
mir die Hand, mein Leben, komm auf mein
Schloß mit mir"!

Wir schreiten vorbei an dem herrlichen
„Seebanquett", welchen Titel die alten hol-
ländischen Dichter den Rund- und Plattfischen,
den Krabben und Krebsen, den Muscheln
und Austern verliehen, und nähern uns dem
Riesen. Das Pförtchen an der Nordseite
nimmt uns auf, und in Ermangelung eines
zeitgemäßen Aufzugs beginnen wir die un-
zeitgemäß hohen und breiten Stufen hinanzu-
kraxeln. Eine weite Halle in halber Geschoß-
höhe bietet Anlaß zum ersten Verschnaufen
und Umsichschauen. Dieser Raum, dem St.
Michael geweiht, stand früher mit dem bischöf-

lichen Palast in Verbindung und diente als
Hofkapelle.

Vorbei ist die gute alte Zeit, da das nächst-
höhere Gewölbe von der Türmerfamilie belebt
wurde, welcher der mittlere Raum als Wohn-
stube und die Seiten- und Mauernischen als
Schlafzellen dienten. Hier schloß ein Gitter
den Treppenlauf ab, das sich nur nach Er-
legung des vorgeschriebenen Obolus dem
Höherstrebenden öffnete. Wenn aber auf
unseren Glockenzug der brave Herr G . . .
oder seine Frau oder Tochter auf der Schwelle
ihres erhabenen Aufenthalts erschien, so ver-
sagten die schon steif gewordenen Knie
plötzlich den Dienst, die keuchende Lunge
und der ausgetrocknete Gaumen verlangten
gebieterisch ihr Recht; die neugierigen Augen
nämlich hatten ihnen die Kunde übermittelt,
daß es dadrinnen an behaglicher Sitzgelegen-
heit nicht fehle, und daß auf der Theke eine
Flaschenbatterie aufgestellt sei, die weit über
den bloßen Familiendurst hinausreiche. Schon
längst hat auf alle Höhen die Gastfreundschaft
sich erstreckt; die Alpenpässe sind stolz auf
ihre altberühmten Hospize; Hotels und Sana-
torien schauen auf die Strato-cumulus und
Nimbuswolken herab, das Straßburger Münster
hat schon dem jungen Dichterheros nebst
der geistigen auch leibliche Erquickung ge-
boten und auch der Utrechter Domturm will
seine Besucher nicht ungelabt entlassen. In
der Mauerdicke ist noch ein Extrastübchen
gewonnen, aus dessen Fenster man schon tief
auf die südliche Stadt herabblickt. Da rastete
sich's gut und sprach sich's gut mit dem Turm-
hüter, der so lange die Welt von oben be-
trachtet und zu berichten wußte, was er da unten
bemerkte. Da wurde es namentlich an Sommer-
sonntagen nicht leer, wenn die Hochflut der
Besteiger sich herauf- und herabdrängte. Da
saß manches Pärchen an dem Fensterlein und
spähte hinab auf die Dächer und suchte sein
Zukunftsdächlein herauszufinden, und schaute
sehnsuchtsvoll und hoffnungsfroh hinaus ins
weite Land und ins weite Leben. Da hat
auch Caspar August Savels sein Haupt- und
Standquartier aufgeschlagen, als er es über-
nahm, die Meisterwerke Gerard de Wouws
für sein leider ungeschrieben gebliebenes großes
Glockenwerk zu erobern. Mit einem seltsamen
 
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