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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

DOI Artikel:
Moeller, Ernst von: Die Wage der Gerechtigkeit, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0217

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345

1907. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 11.

346

Die Wage der

III. (Schluß.)

Die Bedeutung der Wage als Attribut
der Gerechtigkeit,
ur Beantwortung der Frage nach
der Bedeutung der Wage sind sehr
verschiedene Gesichtspunkte auf-
gestellt worden. Von irgend einer
herrschenden Meinung läßt sich heute nicht
sprechen. Im allgemeinen ist die Auffassung
verbreitet, daß die Sache selbstverständ-
lich sei. Aber sieht man näher zu, so zeigt
sich, daß in der Literatur die Meinungen
weit auseinander gehen. Und jeder kann sich
leicht von dem Wirrwarr der Ansichten über-
zeugen, wenn er sich die Mühe macht, ein
paar Juristen oder Laien nach der Bedeutung
der Wage in der Hand der Gerechtigkeit zu
fragen.

Manche gehen von der Wage, andere vom
Wägen bei der Erklärung aus. Wer wägt?
Der Richter? Und was wird gewogen? Gute
und schlechte Handlungen ? Rechte oder Inter-
essen? Ist zur Feststellung des Gewichts ein
fester Maßstab da? Oder wird nur das relative
Gewicht ermittelt? Findet im einzelnen Fall
eine einmalige Wägung statt? Oder wird etwa
erst das Recht der einen Partei, dann das der
anderen gewogen und das Resultat verglichen?

Bei diesem Schwanken der Meinungen ist
es nicht zu verwundern, daß zuweilen ein und
derselbe Schriftsteller ganz verschiedene Er-
klärungen nebeneinander aufgestellt hat. Das
gilt z. B. von Barbier de Montault.104) Einmal
versichert er, die Gerechtigkeit wäge mit ihrer
Wage die guten und schlechten Handlungen
der Menschen; ein ander Mal, sie teile mit
der Wage einem jeden das seine zu; ein drittes
Mal, sie wäge in der einen Schale das Gesetz,
in der andern das Verbrechen. Auch Ripa105)
drückt sich nicht allzu klar aus, wenn er sagt,
die Wage bezeichne für sich die Gerechtigkeit,
weil die Gerechtigkeit die geistigen Güter, wie
die Wage die körperlichen, richtig zuwäge und
allen Handlungen der Menschen die Regel gebe.
Der Gesichtspunkt des Abwägens der Hand-

1M) »Traite d'iconographie« I. 1890. p. 221;
»Oeuvres compl.« II. p. 69. 78. 240. 272; »Revue
de l'art chretien« VII. 1863. p. 384. 388. 392. 439.
497. 500 f. 508. 560. VIII. 1864. p. 45. 48. .62.
167. 328.

106) 1618. p. 47; Ven. 1669. p. 246; Frankf.
1669. I. p. 102.

Gerechtigkeit.

lungen und des Zuwägens kehrt häufig wieder
Die Gerechtigkeit trägt die Wage, sagt Prezel,10ti)
weil sie alles nach Gewicht und Maß tut und
einem jeden dasjenige zuteilt, was ihm zugehört.
Sie wägt die Handlungen der Menschen, .heißt
es in der Enzyklopädie.107) Sie wägt sowohl
dem Kaiser, als dem Mann aus dem Volke
das Recht zu, sagt mit Bezug auf eine einzelne
Darstellung Koehne.108)

Durchaus eigenartig und modern ist ferner
eine Erklärung des Attributs, die Otto Gierke109)
vor kurzem aufgestellt hat. Unparteiisch und
ohne Ansehen der Person solle das Gericht
den Streit der Interessen schlichten, es solle
sie wägen; darum gebe man seit alter Zeit der
Göttin der Gerechtigkeit die Wage in die Hand.
„Aber das bedeutet nicht etwa, daß die Inter-
essen als solche mit einander zu vergleichen
sind, damit dem schwerer wiegenden Interesse
der Vorrang zuerkannt werde. Hier gilt kein
Vorzug von Kapital oder Arbeit, Ackerbau oder
Handel, Produzenten oder Konsumenten, In-
ländern oder Ausländern, Reich oder Arm,
Jugend oder Alter, schönem oder starkem Ge-
schlecht! Vielmehr ist das Gewichtsmaß, von
dem die richterliche Wertung der Interessen
abhängt, das über den Interessen waltende
Recht. Auf welcher Seite die Schale sinkt,
weil das Übergewicht des Rechts sie hinab-
zwingt, da soll der Sieg sein. Auch das für
das rein menschliche Gefühl vielleicht höhere,
edlere oder sympathischere Interesse muß vor
Gericht unterliegen, wenn es, am Rechte ge-
messen, zu leicht befunden wird."

Alle diese Erklärungen sind jedenfalls inso-
fern zu billigen, als sie sich bemühen, dem
Attribut eine greifbare Vorstellung zugrunde zu
legen. Im übrigen wird man keiner den un-
bedingten Vorzug geben können. Alle haben
etwas für sich und alle haben etwas gegen sich.
Sie sind durchweg zu eng. Sie begnügen sich,
die Frage von einer Seite her zu betrachten,
anstatt ihr auf den Grund zu gehen. So geht
es namentlich nicht an, die Wage der Gerechtig-
keit im Hinblick auf den Richter als Beamten
oder mit Rücksicht auf die Art der Entschei-
dung eines Zivilprozesses oder Strafprozesses

106) »Ikonologisches Wörterbuch« 1759. p. 145. 413.
lor) 3. ed. IX. 1773. p. 80 f.

108) »Wormser Stadtrechtsformation« I. 1897. p. 5.
10B) »Tägliche Kundschau« 1906. Nr. 154.
 
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