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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Tepe, Alfred: Rundschau vom Utrechter Domturm
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0073

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101

1907. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.

102

Ungetüm, einem selbsterfundenen Riesenstorch-
schnabel zog er hieher und dann hinauf in
die Glockenstube um das schwer zu erhaltende
für den Wohlklang so wichtige, äußere und
innere Profil der Glockenwände aufs Papier
zu übertragen: mit mächtigen Wachsklumpen
in Staniol gehüllt formte er die prachtvollen
Inschriften und Ornamente, die Kronen und
Ringe ab, und endlich sogar die großen schönen
Figuren der Salvator-, Marien- und Martins-
glocke. Diese Zeitschrift hat einige Resultate
seiner Arbeiten veröffentlicht. Nicht lange hat
das siebenfache unvergleichliche Geläute die
Utrechter Atmosphäre und das Utrechter Ge-
müt in Schwingung versetzt — gar zu bald
ist es verstummt. Nur noch bei Haupt- und
Staatsereignissen geben die armen Glocken
die regelwidrigsten Tonfolgen von sich; eine
Kompagnie braver aber in der Läutekunst
nicht gedrillter Vaterlandsverteidiger wird an
fürstlichen Geburtstagen an die Stränge kom-
mandiert und reißt daran, was das Zeug halten
will. Während de Wouws Kirchengeläute zur
Disposition gestellt ist, blieb das mehr welt-
liche Meisterwerk Hemonysdas schon erwähnte
Glockenspiel bis auf den heutigen Tag in
voller Tätigkeit. Im dritten Turmgeschoß,
dem Oktogon, welches durchbrochen, leicht
und luftig und doch imposant das stolze Werk
bekrönt, sind die hundert Glocken und
Glöcklein mit ihrem Bewegungsapparat unter-
gebracht. Hat das liebe Publikum diese Höhe
erreicht, so ergötzt es sich vor allem an der
großartigen Walze mit ihren tausend Löchern
und Stiften, und harrt gespannt der viertel,
halben oder ganzen Stunde, vor welcher eine,
kürzere oder längere Drehung eintreten muß,
das Vorspiel vor dem Stundenschlag veran-
lassend.

Der Domturm sammt Zubehör ist städti-
sches Eigentum; so hat denn das Stadtregiment
ihm vier enorme Zifferblätter auf die Weste
gehängt, von welchen die ganze Stadt und,
vermittels Fernrohr, sogar die ganze Provinz
die richtige Zeit ablesen kann. Nun steht
dem unermüdlichen, schwindelfreien und ge-
wandten Besteiger noch die enge Wendel-
treppe bevor, um das oberste Geschoß zu
„nehmen". Zuweilen muß er unter pulsdicke
Eisen, Verankerungen späterer Zeit, sich durch-
winden, aber endlich darf er hinaustreten auf
den höchsten Umgang und die Früchte seiner
Anstrengung genießen. Er befindet sich in

gleicher Höhe wie der blinde Gloster und
Edgar auf der Shakespeareklippe in Dover:
„Kommt Herr, hier ist der Ort; steht still! —

Wie graunvoll
Und schwindelnd ist der Blick in diese Tiefe!
Die Kräh'n und Dohlen in der mittlem Luft
Sehn kaum wie Käfer aus. — Halbwegs hinab
Hängt einer, Fenchel sammelnd, grausig "Werk!
Mich dünkt, er scheint nicht größer als sein Kopf.
Die Fischer, die dort an dem Ufer gehn,
Sind Mäusen gleich, und jenes mächt'ge Schiff
Schrumpft ein zu seinem Boot, sein Boot zum

Nachen,
Bemerkbar kaum. — Der Meereswoge Brandung,
Die murmelnd auf zahllosen Kieseln tobt,
Ist kaum vernehmbar. — Ich will nicht mehr hinsehn.
Daß nicht mein Hirn sich dreht, mein wirrer Blick
Köpflings hinab mich stürzt". (König Lear.)

Der Fremdling, der an der Ostseite in die
grauenvolle Tiefe zu seinen Füßen hinab-
blickt, bemerkt zu seinem Erstaunen, daß wo
das Schiff des hohen Domes sich erheben
sollte, ein freier Platz sich ausbreitet zur Dis-
position von Fußgängern, Droschken und
Straßenbahnen, das sogenannte „Domplein"
welches den Turm von den mächtigen Resten
der Kathedrale trennt. Ein Orkan riß am
1. August 1674 das Langschiff, welchem
Gewölbe und Strebebogen noch fehlten, zum
großen Teil ein; seine wunderbare Ruine hat
Saftleven verewigt auf großartigen Blättern,
die noch im Rathaus aufbewahrt werden.
Kreuzschiff und Chor waren erhalten geblieben.
Nun berieten und erhitzten sich die Autori-
täten teils für den Wiederaufbau, teils für gänz-
lichen Abbruch. Die Entscheidung fiel für
den letzteren und wie frühere Jahrhunderte
in langsamen Tempo das Werk zustande ge-
bracht, so räumten die späteren seine Reste
allmählich weg, bis im Jahre 1826 ihr Ideal er-
reicht war, das von den letzten Trümmern
befreite „Domplein". Chor und Kreuzschiff
wurden bei sothaner Geistesrichtung natürlich
ihrem Schicksal überlassen, und die Zeit hat
mit ihrem bekannten Zahn weidlich daran ge-
nagt, bis eine erste Restauration, leider keine
ganz einwandfreie, dem weiteren Verfall Einhalt
tat und endlich in neuester Zeit von befugter
Hand das prachtvolle Chor in alter Herrlich-
keit hergestellt wurde. (Abb. 1.) Wenn die be-
bauten Quadratmeter des Turmes, der Kreuz-
anlage und des Chores mit den unbebauten des
Domplatzes zusammengezählt werden, so er-
gibt sich eine Grundfläche, welche derjenigen
des Kölner Domes nicht viel nachsteht. Aber
nicht allein an Größe und Höhe, auch in
 
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