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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Moeller, Ernst von: Die Wage der Gerechtigkeit, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0177

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279

1907. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 9.

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der Gerechtigkeit nicht wegen irgend welcher
Formen des Verkehrs bei der Preiszahlung oder
des Rechts bei der Manzipation oder sonst
einem Rechtsgeschäft in die Hand gegeben
sein kann. Der Vorstellungskreis, aus dem
heraus das Attribut entstand, muß unendlich
viel weiter, höher, allgemein menschlicher sein.
Dann aber können auf demselben Boden neben
dem Hauptstamm auch Nebentriebe gleich-
zeitig emporgewachsen sein.

Den Schlüssel liefert das Corpus juris
canonici. Wenn Hugo von Trimberg um 1300
sagt, daß der Richter eine Wage in seiner Hand
haben solle, so findet sich im Dekret Gratians35)
bereits im XII. Jahrh. der genau entsprechende
Satz: „Omnis, qui iuste iudicat, Stateram in
manu gestat." Das Bild wird hier noch weiter
ausgeführt: „in utroque penso iusticiam et
misericordiam portat; sed per iusticiam reddit
peccatis sententiam, per misericordiam peccati
temperat penam, ut iusto libramine quedam
per equitatem corrigat, quedam uero per mise-
rationem indulgeat" usw. Diese Stelle stammt
nicht etwa erst von Gratian, sondern von
Gregor dem Großen, der von ca. 540—604
lebte. Aus seinen Moralia ging sie z. B. in
Isidors Sentenzen80), auch in die Sammlung
des Burchard von Worms37) über. Sie war
bereits Gemeingut der kanonistischen Jurispru-
denz, ehe Gratian sie formell dazu stempelte.
Zweifellos war sie seitdem in weiten Kreisen
bekannt. Direkt oder indirekt wird auch Hugo
von Trimberg von ihr beeinflußt sein. Ein
französischer Jurist des XVI. Jahrh., Guillaume
de Roviile, sagt in einer Abhandlung „de iustitia
et iniustitia" vom Richter: „in sinistra manu
Stateram tenet" und beruft sich dafür auf Gregor
und Gratian.38) Vielleicht läßt sich sogar noch
bei Shakespeare eine Nachwirkung ihrer Worte
feststellen; König Heinrich IV.39) sagt nämlich
zum Oberrichter: „Ihr habt recht, Richter, und
erwägt dies wohl. Führt denn hinfort die
Wagschal und das Schwert." Freilich kann
Shakespeare auch lediglich an die Wage der
Gerechtigkeit gedacht haben. Denn seit dem

S5) c. 10- D. 45. Ed. Friedberg I. 1879. col.
164 f.: Gregorius, »Moral.« Lib. XX. p. 4. c. 11.
36) Migne, »Patrologia latina« LXXXIII, col. 724.
«) Migne, CXL, col. 913.

38) »Tractatus universi juris« ed. Ziletti I. Venet.
1584. fol. 381 b.

39) Teil II, Abt. V, Sc. 2; Werke, herausgegeben
von der Sh.-Gesellsch. II2. 1876. p. 124.

Ende des Mittelalters gehen bereits beide Vor-
stellungen, Wage des gerechten Richters und
Wage der Gerechtigkeit, ineinander über. Sehr
deutlich zeigt dies die Widmung, die der be-
rühmte Jurist Jason Maynus in Pavia 1491 an
der Spitze seines Digesten-Kommentars40) an
Lodovico Sforza richtete. Er sagt hier: „Istud
tarnen praecipue admiror et laudo, quod iusti-
tiam quam maxime colas et observes, quod
iustitiae trutinam tanta rectitudine teneas, ut
nüllum favori, nullum gratiae aut potentiae
locum concedas."

Das Corpus juris canonici kennt also nicht
die Wage der Gerechtigkeit, aber die des gerech-
ten Richters. Die Vorstellung des gerechten
Richters ist uralt. Aber sollen wir auch die Wage
der Gerechtigkeit in der Hand des gerechten
Richters für einen Gedanken halten, der jedem
Griechen geläufig war, während doch in Sparta
oder Athen so wenig wie sonst je ein Richter
mit der Wage zu Gericht saß? Unmöglich
läßt sich auf diesem Weg die Entstehung des
Attributs erklären, wenn man immer nur an
irdische Richter und irdische Prozesse und
Gerichte denkt. Das Wort Gerechtigkeit hat
einen höheren Klang und tiefere Bedeutung.

Wiederum weist uns das Corpus juris
canonici den richtigen Weg. Schon Gregor
der Große hat in jenen Worten, als er vom
„omnis, qui iuste iudicat" sprach, nicht nur an
irdische Richter, sondern an den gerechtesten
Richter vor allen anderen, an den Richter der
Welt, an Gott gedacht. Und diesen Gedanken,
der bereits dort deutlich zwischen den Zeilen
zu lesen ist, bringt Gratians Dekret41) an einer
anderen Stelle aufs klarste zum Ausdruck:
„Non afferamus stateras dolosas, ubi appen-
damus quod uolumus pro arbitrio nostro,
dicentes, hoc graue, hoc leue est: sed afferamus
diuinam stateram de scripturis sanctis, tamquam
de thesauris dominicis, et in illa quid sit grauius
appendamus." Es sind Worte Augustins,42)
die Gratian hier wiedergibt.

(Fortsetzung folgt.)

Berlin. Ernst v. Moeller.

40) »In primam Digesti veteris partem.« Lugd. 1557.
fol. 2».

41) C. 24. q. 1. c. 21 ; Ed. Friedberg I. col. 973.

42) »De baptismo« II, 6. no. 9. Ed. Maur.;
cf. Friedberg 1. c. Vgl. Calvin, »Instit.« 317.
Ed. Genf 1561; Littre, »Dictionnaire« I. 1863.
p. -Jc4.
 
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