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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Moeller, Ernst von: Die Wage der Gerechtigkeit, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0187

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293

1907. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 10.

294

Die Ägypter legten den Leichen Skarabäen auf
die Brust und schrieben darauf Worte, welche
dem Toten in den Mund gelegt wurden und
an das eigene Herz gerichtet waren: „O Herz,
das ich von meiner Mutter habe! O Herz,
das zu- meinem Wesen gehört! tritt nicht gegen
mich als Zeuge auf, bereite mir keinen Wider-
stand vor den Richtern, widersetze dich mir
nur nicht vor dem Wagemeister." Diese Zauber-
formel hatte ihren guten Grund. Wenn nämlich
der Tote in die „Halle der beiden Wahrheiten"
kam, so sah er sich nicht nur Osiris und den
zweiundvierzig Richtern der Toten gegenüber,
sondern gleich im Vordergrund stand eine große
Wage. Der Ankömmling wird von der Mat,
der Göttin der Wahrheit, empfangen und spricht
eine Lobrede auf sich selbst, das bekannte
negative Sündenregister, in dem auch von Maß,
Gewicht und Wage die Rede ist: „Ich habe das
Kornmaß nicht verringert. Ich habe das Ellen-
maß nicht verringert. Ich habe das Ackermaß
nicht verfälscht. Ich habe die Gewichte der
Wage nicht beschwert. Ich habe die Zunge
der Wage nicht verfälscht." Nachdem der
Ärmste in dieser langen Beteuerung, die alle
möglichen Vergehungen abstreitet, auch ver-
sichert hat, daß er sein Herz nicht durch un-
nütze Reue aufgezehrt habe, nehmen Horus
und Anubis sein Herz, legen es auf die eine
Schale der Wage und wiegen es gegen das
Zeichen der Wahrheit, die Straußenfeder, ab;
das Herz darf nicht leichter sein. Die Göttin
Mat kontrolliert die Wägung, Thot bucht als
Gerichtsschreiber das Resultat und teilt es
Osiris mit.

Zu dem berühmten Kap. 125 des Toten-
buchs sind in verschiedenen Exemplaren bild-
liche Darstellungen erhalten, die in Einzelheiten
voneinander abweichen. Das Herz des Toten
ist mitunter stilisiert, als Gefäß gezeichnet. Statt
der Straußenfeder erscheint auf der anderen
Wagschale zuweilen ein kleines Bild der Göttin
Mat selbst, ein Gewicht von der Form, wie
sie die Ägypter im täglichen Leben neben
anderen anwandten.47) Die Ausstattung der
Halle und des ganzen Bildes wechselt, je nach
dem Raum, den der Künstler zur Verfügung

Generalverwaltung, 5. Aufl. 1886. p. 36f.; »Revue
archeologique« I, 1. 1844. p. 235ff., p. 291 ff.: Maury,
»Recherches sur l'origine des representations figurees
de la psychostasie«.

47) Roskoff, „Wage" in »SchenkelsBibellexikon«
V. 1875. p. 631,

hatte. Aber „das wesentliche war die Wage,
der Verstorbene und Osiris";48) die Wägung
fehlt nie.

Bei der großen Rolle, die die Vorstellung
des Totengerichts in der Phantasie der alten
Ägypter gespielt hat, ist es kein Wunder, daß
Bezugnahmen auf Wage und Wägen auch in
die Titulaturen des ägyptischen Ämterwesens
eingedrungen sind. Wenn der englische „Custos
balanciae" des Mittelalters hier bereits einen
Vorgänger in dem „Hüter der Wage des Silber-
hauses" hat, der sich in einer Inschrift gelegent-
lich rühmt, die Einkünfte der Götter nicht ver-
ringert und das Zünglein der Wage nicht ge-
fälscht zu haben,49) so erklärt sich sein Titel
einfach aus der Wage, die er zu hüten hat.
Aber viel interessanter ist die Tatsache, daß
die Mitglieder der sechs oberägyptischen Ge-
richtshöfe „Geheimräte des Abwägens der ge-
heimen Reden des großen Hauses" hießen, daß
einer der dreißig Großen des Südens sich
selbst einmal „Vorsteher der königlichen Be-
hörde des Abwägens aller Worte" mit Bezug
auf sein Richteramt nennt.50)

Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine
Beeinflussung der Titulaturen der Richter durch
jene Vorstellungen vom Totengericht und der
Seelenwägung. Das Verhältnis kann nicht das
umgekehrte sein; denn die Idee des Toten-
gerichts ist älter.51) Und die Annahme einer
gemeinsamen Wurzel für beide Erscheinungen,
etwa in einer ursprünglichen bildlichen Abstrak-
tion für das Urteilen des Richters ist ebenfalls
ausgeschlossen; denn derartige allgemeine Ab-
straktionen entwickeln sich bei jedem Volk erst
allmählich mit dem Fortschreiten der Kultur
und sind anfangs unbekannt.

Der Gedanke an die Wage der Gerechtig-
keit liegt hier offenbar sehr nahe. Die Wage
des ägyptischen Totengerichts schließt jede,
selbst die göttliche Willkür aus und soll die
unbedingte Gerechtigkeit des Urteils sichern.
Dazu kommt, daß die Göttin Mat, Maat oder
Maat zwar heute überwiegend als Göttin der
Wahrheit bezeichnet wird, aber bis vor kurzem
durchweg Göttin der Gerechtigkeit oder der

48) Nävi He, Einleitung, p. 163.

*9) Erman, »Ägypten« I. p. 160.

50) Erman, 1. c. p. 200.

61) „Die Vorstellung von Osiris als dem Richter
der Toten gehört bereits der Zeit des alten Reichs
an", Erman, »Äg. Rel.« p. 102; von der Wage des
Totengerichts gilt ohne Zweifel dasselbe.
 
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