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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

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Heft 13 (1. Aprilheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0059

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Vom tzeute fürs Morgen

^Volksgunst ift wankel-
rnütig"

iesen schönen Spruch einer ver-
alteten Volkspsychologie darf man
Leuten von persönlicher Empfindlich«
keit, wie verblichenen Bühnenster--
nen und ehemaligen Parlamenta«
riern gewiß nicht übelnehmen. Mit
der Zeit unterliegt ihm fast jeder
öffentliche Mann. Der Spruch ist
eben für resignierende Aristokraten
und Demokraten gleich geeignet, er
kann heimliche tzoffnungen begrün-
den und offenbare Enttäuschungen
mildern und kann auch zurückgezoge-
nen MenscheN) die nie öffentlichen
Lhrgeiz fühlten und nie von Volks-
gunst abhängig waren, zur Beruhi-
gung dienen. Mit der nötigen Ver-
ächtlichkeit im Tonfall ausgesprochen,
vermag er sogar Plebejern Ansehen
zu verleihen. In geschichtlichen
Trauerspielen älteren Stils darf die
Ansicherheit und Treulosigkeit der
Volksgunst ja nicht fehlen und muß
durch überraschende Zusammenhang«
losigkeit der Gesten in der Volks«
menge deutlich ausgedrückt werden.
Gravierender sind schon die Beispiele
der Geschichte aus allen Völkern und
allen Zeitaltern, unvergeßlich das
„tzosianna!" und „Kreuziget ihn!"
Wenn klassische Philologen alten
Schlags politisierten, warnten sie
obenan vor dem Wankelmut der
Volksgunst) was vermutlich manchen
Sekundaner späterhin vor dem
Schicksal Coriolans bewahrt hat.
tzeute spricht man, mich dünkt mit
größerem Rechte, öfter von der An-
belehrbarkeit und Beharrlichkeit der
Volksmeinung) und die schreckliche
politische Resignation der oberen
Schichten kommt gewiß nicht aus dem
Gefühl) daß Volksgunst wankelmütig
sei) sondern im Gegenteil aus der

Gewißheit) daß in den Gedanken der
Massen heutigestags eine schier un-
überwindliche, von persönlichen Sym-
pathien fast unabhängige Starrheit)
wenn man will: Treue steckt.
Überhaupt) man fragt jetzt häufiger
nach der Tragfähigkeit könig-
licher Gunst und findet gemach,
daß MinisterposteN) was die politi-
sche Lebensdauer des Menschen an-
langt) nicht gar soviel größere Bürg-
schaften bieten als Reichstagsman-
date. Seine Führer erster Ordnung
läßt das wählende Volk jedenfalls
selten oder nie im SLiche, und wer
in Berlin oder tzamburg gewählt
wird, hat, gute Gesundheit voraus-
gesetzt, die Aussicht, vier bis fünf
Minister wegärgern zu helfen. Es
muß sich doch, seitdem der Satz vom
wankelmütigen Volk aufkam, in der
Volkspsyche einiges geändert haben.
Ich glaube) die Anderung liegt
darin, daß wir hie und da schon
aus dem SLadium der Volksstim-
mungen in das der Volksmei-
nungen Hinübergelangten. Aber
die Ansicherheit in der Beurteilung
massenpsychischer Vorgänge verschafft
jener alten Ansicht immer wieder
Kredit und der geringe Glaube an
die Zuverlässigkeit der Volksgunst
überträgt sich, allen Gegenbeweisen
zu Trotze, gern auf die Ansichten
über die Volksmeinung. Auch
die erscheint uns unzuverlässig, un-
berechenbar, sprunghaft, ja — be-
Lrachten wir ihre Aussagen: um-
stürzlerisch. And doch beweist die
Geschichte bis zu Bismarck hinauf,
daß alles wahrhaft Aufrührerische,
alle wirklich revolutionäre Laune aus
der Seele des Genies stammt, alles
Schwergewicht der Ordnung aber und
des Zusammenhangs aus dem
Schwergewicht der Massen. Der
Blutschein der Fackel über dem Was-
 
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