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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

DOI issue:
Heft 14 (2. Aprilheft 1914)
DOI article:
Schumann, Wolfgang: Zwei Kulturen der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0110

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W

Awei Kulturen der Musik

enn in dem Aufsatz des vorigen Heftes über August Halm dessen
Buch „Von zwei Kulturen der Musik" (MüncheN) Verlag Georg
Müller, 5 M.) als eine Art Kommentar zu den Tonwerken Halms
genutzt wurde, so möchte ich davor warnen, etwa umgekehrt die Tonwerke
dieses Verfassers zur Erläuterung seines Buches zu benützen. Bedeutet wirk»
lich Halms Musik den Ruf: Zurück — dies lasse ich unentschieden —,
sein Buch enthält den Ruf: Vorwärts! Und wohin es weist, das wird
nicht so eindeutig durch tzalms Schaffen erläutert, wie durch seine tief gläu-
bige Verehrung Anton Bruckners. Ihm nach, lautet Halms Spruch. Was
aber hat, im Linzelnen, Bruckner erreicht, das zu erreichen uns aufgegeben
ist? Rach Halm: die Synthese der beiden „Kulturen" der Musik, welche
in seinem Buche dargestellt werden. Eine neue Möglichkeit, erwachsen
aus zwei Möglichkeiten, deren Erfüllung an sich schon Herrlichkeit genug
war. Das Ideal des „Staates" stellt die Sonate dar, sie ist die Organi--
sation einer Reihe von Elementen, deren Wert im Einzelnen gering sein
kann. Die Fuge dagegen ist die „Formel einer Individualität". Sie
ist der „Idee eines Themas geweiht", sie hat Stimmen, welche nicht
allein harmonisch wirksam sind oder dem Dienst einer Gesamtwirkung
sich unterordnen, sondern „die melodische Verantwortlichkeit für ihre
Existenz auf sich uehmen", die tzarmonie ist „das gemeinsame Produkt
der einander in freier Selbständigkeit befreundeten Stimmen, der Geist
ihrer Freundschaft". And beide Formen existieren für tzalm nicht allein
als Möglichkeiten, sondern fast als ewige Gesetze. Wir werden, so sagt
er, den Gang der Musikgeschichte von unklaren zu klaren Formen wieder
anders ansehen, werden „Experimente als Ausnahme respektieren, eigentlich
geniales Schaffen aber nicht da erblicken, wo das Gewonnene wieder
getrübt, das sich Anterscheidende wieder durcheinandergemengt erscheint,
sondern da, wo die Richtungslinien der Entwicklung deutlich werden;
wir werden dann in dem Sieg der Formen über das mannigfaltig
Störende, Verwirrende, Mißglückte die stetig wachsende Idee, die immer
tüchtigere Verkörperung der (als Gebot, als Bedürfnis) prä-
existenten Form wahrnehmen, und schließlich wird es uns nicht mehr
so sein, als ob es bloß Fugen und Sonaten gäbe, sondern wir werden
ahnen, daß, letzten Endes und ersten Anfangs, die Fuge, die So-
nate existiert." Die philosophische und priesterliche Verehrung, welche
tzalm der Form an sich entgegenbringt, spricht sich auch sonst in dem
Werke allenthalben aus. Sie gilt vor allem der Sonatenform, welche
in erster Linie den Begriff des „großen Organismus" verkörpert,
welchen tzalm als Begriff der Form aufstellt. Die persönliche Vorliebe
des Verfassers gilt indessen offensichtlich der Fuge, als welche zur künst»
lerischen Betätigung des andern Ideals, des „Ideals des Stils" oder
der Diktion, der musikalischen Sprache, mehr Raum gibt. Wir erfahren
von Halm über die zwei Kulturen so viel: auf der einen Seite steht die
Fuge, steht I. Seb. Bach, steht das Ideal einer bewußten, selbständigen,
durchgebildeten Sprache. Auf der andern steht die Sonate, voran die
Sonate Beethovens, das Ideal des „ideal funktionierenden Staates",
der glänzend disponierten und wirksam verwendeten „Kraftsymbole"
(Themenl), des tief innerlich begründeten Gangs der tzandlung, dem die
tzauptthemen und die Weisen dienen, wie sie verarbeitet werden.
 
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