Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

DOI issue:
Heft 13 (1. Aprilheft 1914)
DOI article:
Vom Heute fürs Morgen
DOI article:
Unsre Bilder und Noten
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0086

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Kindergeschrei

^-un, Mutter," sagte ich, mich auf
-^^die Fensterbank lehnend, „und
Ihr seid nicht in der Kirche?"

Die Alte sah auf und sagte
lachend: „Et geit nich immer; ek
mott düsse lüttgen Panzen waschen
und antrecken — tzerre — Kinder«
schrieen is ok een Gesangbauks«
versch!"

Ich nahm den tzut ab und trat
unwillkürlich einen Schritt zurück.
Welch eine wunderbar schöne Pre-
digt lag in den fünf Worten des
alten Weibes! Eine Schwalbe be«
schrieb eben ihren Bogen um mich,

ihrem Neste unter dem niedrigen
Dachrande zu, und klammerte sich,
ihre Beute im Schnabel, an die
Tür ihrer kleinen Wohnung, begrüßt
von dem jubelnden Gezwitscher der
federlosen Brut. Ich konnte der
alten Frau kein Wort mehr sagen.

„Kinderschrieen is ok een Gesang--
bauksversch!^ murmelte ich leise, zu
meinem Tisch unter der Linde zu-
rückgehend. Ich riß ein Blatt aus
meiner Brieftasche, schrieb darauf:
Kinderschrieen is ok een Gesang-
bauksversch, und zog es mit einem
Strauß Waldblumen unter das tzut-
band. Wilhelm Raabe

Unsre Bilder und Noten

/^^örgeln wir erst einmal, um das Unerfreuliche aus dem Kopf zu be-
^R/kommen: die Reproduktion, die vor unserm tzefte steht, genügt uns
^ v-'nicht. Zwar ist sie keine Durchschnitts-Farbenautotypie, wie die
andern jetzt so beliebten bunten Blätter in „Farbenpracht", sondern ein
steindruckartiges Gebilde, aber ihre Farben quirlen infolge der rein mecha-
nischen Wiedergabe des weit größeren Originals trotzdem unfein durchein-
ander. In diesem Falle ließ es sich nicht anders machen, wenn wir das Bild
überhaupt wiedergeben wollten. And allerdings: das wollten wir, denn auch
hier ist Kunst von der Art, die Heute ganz gegen die Mode geht und deshalb
von den Selbständigen um so mehr beachtet werden sollte. Was die mangel-
hafte Reproduktion nicht gibt, das verlange man von der eigenen Phantasie:
daß sie unserm innern Auge das Originalwerk von Karl Mediz vor-
stelle. Entgegen den meisten Reproduktionen will diese ganz aus der
Nähe betrachtet werden, wenn das gelingen soll. Das Original ist groß,
wandfüllend groß. Der Riesenbaum, der in den südlichen Alpen
irgendwo als ein scheu bestauntes Mal aus tzeidenzeiten steht, ist in
seiner kaiserlichen tzerrlichkeit noch mehr mit einem Poetenherzen als mit
einem Malerauge erfaßt. Und ist wirklich erfaßt, ist mit Menschen-
freude ebenso in seiner Schönheit wie in seiner heroischen Kraft gefühlt.

An Max Klingers Blatt aus dem Zyklus Vom Tode: „Der tzerr-
scher" hat vielleicht mancher Kunstkenner gerade in den letzten Wochen
gedacht, als wieder einer aus friedlichem Leben zum König wurde. Es ist
auch eine „Deputation", die diesem Nenaissance-Fürsten hier zujubelt,
aber wer ihm da kniend das Reichsschwert überreicht, das weiß nur der
Knabe, der Zukunft ist, — durch tzerrscher und tzerrscherin geht noch kein
Wissen, geht nur ein Schauer vom Todesgruß. Sie nehmen die Krone
doch. Das ist Klingersche Kunst: die Stimmung des Bildes in ihrer
lastenden Unheimlichkeit fühlt man sofort beim ersten Blick, fühlt man
schon, bevor man sich über das klar wird, was da eigentlich geschieht. Von
 
Annotationen