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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1914)
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Cauer, Paul: Die Antike als Jungbrunnen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0269

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1 Iahrg. 27 Zweites Maiheft 1914 Hest 16

Die Antike als Zungbrunnen

^s^ie hohe Meinung, welche die Leute vom Altertum hegen, ist un-
^-D^bedacht und paßt nicht einmal recht zu dem Worte selber. Denn die
v Zeiten, wo die Welt alt und hochbetagt ist, müssen in Wahrheit
als Altertum gelten; diesen Vorzug aber hat unsre Zeit, nicht das
Iugendalter der Welt, wie es bei den Alten war. And in der Lat,
wie wir eine größere Kenntnis der menschlichen Dinge und reiferes Arteil
von einem bejahrten Mann erwarten als von einem Iüngling, wegen
seiner Erfahrung und der Fülle und Mannigfaltigkeit dessen, was er
gehört, gesehen, gedacht hat, so kann man auch von unserm Zeitalter
— wenn es nur seine Kräfte kennte und sie erproben und anspannen
wollte — viel größere Leistungen erwarten als von jener Frühzeit." So
schrieb vor dreihundert Iahren Baco von Verulam. And die Geschichte
hat doch wohl sein Arteil bestätigt. Damals hatte die moderne Mensch-
heit eben angefangen ihre Kräfte zu kennen und zu gebrauchen; und Ge-
waltiges hat sie seitdem erreicht. Im Vergleich zu der tzerrschaft über
die Naturkräfte, die wir ausüben, muß das, was darin die Alten ver-
mochten, gering erscheinen. And diese tzerrschaft wurde nicht zufällig
gewonneN) sondern erwuchs aus vertiefter Erkenntnis, die dem Argrunde
des Seins immer näher kommt.

Ist es nicht eine erhabene Vorstellung, wie in der Analyse des Che-
mikers die äußere Gestalt der Dinge verschwindet und die einfachen Grund«
stoffe, aus deren Verbindung alles besteht, zutage treten? Sicher —
aber der erhabene Gedanke selber stammt aus dem Altertum. Das grie-
chische Wort, das die Römer „Element^ übersetzt haben, war der ge«
läufige Ausdruck für „Buchstaben"; in die Naturwissenschaft ist er als
Gleichnis gekommen. Wie die Wörter in einzelne Buchstaben, so hoffte
man die Körper in ihre einfachsten Bestandteile zerlegen zu können.
Wer sich mit der Definition begnügt, die heute fertig im Lehrbuch steht,
ahnt nichts von der geistigen Arbeit von Iahrhunderten, die in dem
einen Begriffe steckt; wer sich die tzerkunft des Namens klar macht,
für den wird die angesammelte Kraft wieder lebendig: er empfindet etwas
von der Entdeckerlust, die erlebt wurde, als die Menschen zuerst von dem
Verlangen gepackt waren, nach ArbestandLeilen der Dinge zu suchen.

„Von der Anschauung zum Begriff!" — so lautet eine wichtige Maxime
alles Anterrichts, auch der Art von Anterricht, die den Mann durchs
Leben begleitet, bei der er Lernender und Lehrender zugleich ist. Aber
es wird immer schwerer danach zu handeln. So vieles fliegt uns an
aus der täglich vernommenen Sprache, wo wir denn umgekehrt zum
gegebenen Worte nachträglich den Inhalt suchen müssen. Eingeführter
Anterscheidungen und Zusammenfassungen bedienen wir uns, als wären sie
von jeher dagewesen und mit denselben Augen aus der Natur abgelesen

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