I Iahrg.27 Erstes Maiheft 1914 Heft 15
Wir brauchen eine bürgerliche Kunst
>^^«^enn wir durch eine Kunstausstellung gehn, pflegen wir uns auf
v Hdie einzelnen Werke einzustellen. Wir sehn in dem, was da vor
uns hängt und steht, einzelne Leistungen von verschiedenem Wert.
Nur zuweilen, wenn wir hier und da, selten genug, ein weißes Zettelchen
mit der Aufschrift „Verkauft" erblicken, denken wir flüchtig an allerlei
Dinge hinter den Bildern, und es taucht dämmernd eine Vorstellungs-
kette in unserm Bewußtsein auf von all den geistigen und wirtschaftlichen
Kräften, die in äußeren und inneren Kämpfen unter einer Fülle von
Mißglücktem, Halb- oder Schlechtgekonntem das Wenige hervorbringen,
das sich als der wahre Ausdruck der Sehnsucht einer Zeit oder der Mensch--
heit bewährt. Damit bekommen plötzlich all die einzelnen Künstler und
ihre einzelnen Werke in unsrer Vorstellung einen innern Zusammenhang.
Sie erscheinen uns als Teilkräfte und Teilausdrücke einer einzigen großen
Lebensflut und in ihrem Wesen nur begreifbar aus einer Erschauung
der ganzen aufrauschenden Welle.
Stellen wir uns einmal vor: alle Kunstausstellungsgebäude, alle Aus-
stellungsräume der Kunsthandlungen, alle Künstlerwerkstätten Deutschlands
bewegten sich aufeinander zu und schlössen sich zusammen wie Blasen auf
dem Wasser. An den hohen Wänden der Riesenhallen, die in der Ferne
fast verdämmern würden, hingen dicht geschart Gemälde, Aquarelle, Ieich-
nungen, Radierungen, stünden weithin gereiht Werke aus Gips, tzolz,
Marmor, Bronze: die Ernte der deutschen Kunst eines einzigen Iahres.
And nun gestalten sich unserm Blick plötzlich sichtbar die Kräfte, die das
hervorbrachten: aus Bauernhäusern, aus Arbeiterwohnungen, aus Miets-
häusern und Schlössern, überall ringt es sich auf, um Träume und Gefühle
zu bannen. Dort hungert einer mit glänzenden Augen: er fühlt die
Kraft, den Traum zu erjagen. In einem reichen tzause quält sich einer
in innerem Kampf. Wieder ein andrer fühlt sich lässig von der Woge
des Erfolgs mitgerissen. Einer sinkt ins Grab, andere tun die Augen
auf. Ls ist die Arbeitsleistung eines Volkes, das sich hinauf- und hinaus«
tastet zu Erlebnissen, nach denen sie ein dunkles Sehnen drängt. Aud blicken
wir nun auf das Gesamtwerk in jener Riesenhalle zurück: jeder Bleistiftstrich,
jeder Meißelschlag ist ursächlich notwendig in dieser Arbeitsleistung,
beren Sinn einige wenige Erfüllung der allgemeinen Sehnsucht ist. Men-
schenleben müssen in Elend oder Wohlsein verkommen, hunderttausend
Versuche müssen aufgegeben, zerrüttende Irrtümer müssen bis zur Selbst-
vernichtung durchgeführt werden in diesem sinnlich-geistigen Lebensvorgang
eines Volkes, den wir seine „Kunst" nennen. Der Menschengeist ent-
faltet sich nicht anders wie alle 'Natur: die festen, dauernden Formen sind
Einzelfälle einer ungeheuren Formen-„Verschwendung^.
Man wolle den Begriff „Kunst" in der angedeuteten Weise ganz mit
der Anschauung des Volkslebens erfüllen, das Tag für Tag unendlich
Wir brauchen eine bürgerliche Kunst
>^^«^enn wir durch eine Kunstausstellung gehn, pflegen wir uns auf
v Hdie einzelnen Werke einzustellen. Wir sehn in dem, was da vor
uns hängt und steht, einzelne Leistungen von verschiedenem Wert.
Nur zuweilen, wenn wir hier und da, selten genug, ein weißes Zettelchen
mit der Aufschrift „Verkauft" erblicken, denken wir flüchtig an allerlei
Dinge hinter den Bildern, und es taucht dämmernd eine Vorstellungs-
kette in unserm Bewußtsein auf von all den geistigen und wirtschaftlichen
Kräften, die in äußeren und inneren Kämpfen unter einer Fülle von
Mißglücktem, Halb- oder Schlechtgekonntem das Wenige hervorbringen,
das sich als der wahre Ausdruck der Sehnsucht einer Zeit oder der Mensch--
heit bewährt. Damit bekommen plötzlich all die einzelnen Künstler und
ihre einzelnen Werke in unsrer Vorstellung einen innern Zusammenhang.
Sie erscheinen uns als Teilkräfte und Teilausdrücke einer einzigen großen
Lebensflut und in ihrem Wesen nur begreifbar aus einer Erschauung
der ganzen aufrauschenden Welle.
Stellen wir uns einmal vor: alle Kunstausstellungsgebäude, alle Aus-
stellungsräume der Kunsthandlungen, alle Künstlerwerkstätten Deutschlands
bewegten sich aufeinander zu und schlössen sich zusammen wie Blasen auf
dem Wasser. An den hohen Wänden der Riesenhallen, die in der Ferne
fast verdämmern würden, hingen dicht geschart Gemälde, Aquarelle, Ieich-
nungen, Radierungen, stünden weithin gereiht Werke aus Gips, tzolz,
Marmor, Bronze: die Ernte der deutschen Kunst eines einzigen Iahres.
And nun gestalten sich unserm Blick plötzlich sichtbar die Kräfte, die das
hervorbrachten: aus Bauernhäusern, aus Arbeiterwohnungen, aus Miets-
häusern und Schlössern, überall ringt es sich auf, um Träume und Gefühle
zu bannen. Dort hungert einer mit glänzenden Augen: er fühlt die
Kraft, den Traum zu erjagen. In einem reichen tzause quält sich einer
in innerem Kampf. Wieder ein andrer fühlt sich lässig von der Woge
des Erfolgs mitgerissen. Einer sinkt ins Grab, andere tun die Augen
auf. Ls ist die Arbeitsleistung eines Volkes, das sich hinauf- und hinaus«
tastet zu Erlebnissen, nach denen sie ein dunkles Sehnen drängt. Aud blicken
wir nun auf das Gesamtwerk in jener Riesenhalle zurück: jeder Bleistiftstrich,
jeder Meißelschlag ist ursächlich notwendig in dieser Arbeitsleistung,
beren Sinn einige wenige Erfüllung der allgemeinen Sehnsucht ist. Men-
schenleben müssen in Elend oder Wohlsein verkommen, hunderttausend
Versuche müssen aufgegeben, zerrüttende Irrtümer müssen bis zur Selbst-
vernichtung durchgeführt werden in diesem sinnlich-geistigen Lebensvorgang
eines Volkes, den wir seine „Kunst" nennen. Der Menschengeist ent-
faltet sich nicht anders wie alle 'Natur: die festen, dauernden Formen sind
Einzelfälle einer ungeheuren Formen-„Verschwendung^.
Man wolle den Begriff „Kunst" in der angedeuteten Weise ganz mit
der Anschauung des Volkslebens erfüllen, das Tag für Tag unendlich