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Hess, Daniel
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet: Hessen und Rheinhessen — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 3,2: Berlin: Dt. Verl. für Kunstwiss., 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.52864#0230

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GELNHAUSEN • MARIENKIRCHE

225
Rekonstruktion, ikonographisches Programm: Angesichts der lückenhaften Überlieferung läßt sich das bis 1877
durcheinandergewürfelte ikonographische Programm nurmehr hypothetisch rekonstruieren. In der Chorachse befand
sich nach Ausweis der Felder mit altem Bestand ein Fenster mit der Wurzel Jesse. Wie die um wenige Jahre älteren
Beispiele in der Kölner Pfarrkirche St. Kunibert und im Regensburger Dom bereitet es den Übergang zum typologi-
schen Bibelfenster vor, indem die biblischen Szenen der Verkündigung Mariae und Geburt Christi in die traditionelle
Darstellung der Stammväter integriert werden. In deren Schilderung als thronende Herrscher bleibt das Gelnhäuser
Fenster älteren Jesse-Fenstern, wie demjenigen im Freiburger Münster verbunden, ohne jedoch die dortigen Neben-
stränge mitaufzunehmen. Bei der Auferstehung in der fünften Zeile handelt es sich um eine Neuschöpfung von
1878/79, die offenbar dem ikonographischen Vorbild des Jesse-Fensters in St. Kunibert folgt15.
Die übrigen Chorfenster zeigten auf der Nordseite Szenen aus der Geschichte von Joachim und Anna sowie aus dem
Marienleben, auf der Südseite dagegen die Passion Christi, der wohl Szenen der öffentlichen Wirksamkeit voraus-
gingen. Am besten erhalten ist Chorfenster nord III mit der Legende von Joachim und Anna: Die erste zyklische Dar-
stellung der auf dem Jakobusevangelium gründenden Geschichte der Voreltern nördlich der Alpen findet sich an den
Kapitellen des Königsportals in Chartres um 1145/55 und schlug sich mit der wachsenden Marienverehrung zunächst
in der französischen Portalplastik nieder16. Die frühesten Beispiele in der Glasmalerei finden sich wiederum in
Chartres, in dem um 1215 entstandenen Chorachsenfenster, während sich in Deutschland bis um 1310/20 in Regens-
burg offenbar kein Beispiel nachweisen läßt17. Dem Gelnhäuser Fenster kommt somit große Bedeutung zu. Es zeigt
von unten nach oben, in chronologisch etwas durcheinander geratener Abfolge: Joachim bei seiner Herde, die Ver-
mählung mit Anna, die Verweigerung von Joachims Opfer, die Verkündigung an Joachim, die Verkündigung an Anna
sowie die Geburt Mariae. Akzeptiert man die bei der Restaurierung 1878/79 neugeschaffene, jedoch selten dargestellte
Szene der Vermählung von Joachim und Anna anstelle der Begegnung an der Goldenen Pforte, müßte die ursprüng-
liche Abfolge chronologisch folgendermaßen gelautet haben: Vermählung, Verweigerung des Opfers, Joachim bei
seiner Herde, Verkündigung an Joachim, Verkündigung an Anna und Geburt Mariae.
Auch wenn keine einzige Szene erhalten geblieben ist, dürfte dieser Zyklus in Fenster nord II mit Marienszenen
weitergeführt worden sein18. Gleiches gilt für Fenster süd II, das wohl Szenen der öffentlichen Wirksamkeit Christi
zeigte, während Fenster süd III den Zyklus mit Passionsszenen abschloß19. Während die Wandmalereien der nörd-
lichen Chorwand den Marien- und Christuszyklus um einzelne Szenen von Christi Schulgang bis zum Auftrag an
Petrus erweitern, wobei der Aspekt der Ausbildung und Weitergabe der christlichen Lehre im Mittelpunkt steht, gip-
felt das Chorprogramm in der Deesis im Gewölbe (Fig. 157). Das Wandgemälde der Südwand mit dem stehenden
Königspaar (Textabb. 9), das in Anlehnung an das ab 1248 belegte Stadtsiegel wohl mit Friedrich I. Barbarossa und sei-
ner zweiten Gemahlin Beatrix zu identifizieren ist, dem darunter knienden Stifterpaar und der betenden Maria in der
Bekrönung beziehen sich dagegen auf den Fundator der Stadt Gelnhausen sowie die Stifter und Patronin der Kirche20.

15 Zu den erwähnten Vergleichsbeispielen vgl. zuletzt Becksmann, in:
DGM I, 1995, S. 47-54.
16 Neben Chartres ist etwa der untere Türsturzstreifen des zu Beginn
des 13. Jh. umgestalteten Annenportals von Notre-Dame in Paris zu nen-
nen; zu Chartres vgl. Willibald Sauerländer, Gotische Skulptur in
Frankreich 1140-1270, München 1970, S. 68, zu Paris ebd., S. 88, sowie
ders. Die kunstgeschichtliche Stellung der Westportale von Notre-
Dame in Paris. Ein Beitrag zur Genesis des hochgotischen Stiles in der
französischen Skulptur, in: Marburger Jb. für Kunstwissenschaft 17,
1959, Abb. 6.
17 Zum Fenster der Hl. Sippe im Regensburger Dom vgl. Fritzsche,
CVMA Deutschland XIII, 1, 1987, S. 51-70, Abb. 70-73.
18 Inwieweit das bei den Voreltern einsetzende Marienleben auf Textvor-
lagen wie die 1172 in Augsburg beendete, erste größere epische Marien-
dichtung von Werner dem Pfaffen zurückgeht, kann hier nicht unter-
sucht werden. Zum Marienlied Werners vgl. Die Deutsche Literatur des
Mittelalters. Verfasserlexikon IV, Berlin 1953, S. 902-910, zu den Illu-
strationen in einer ehemals in der Berliner Staatsbibliothek befindlichen,
seit dem Krieg verschollenen Handschrift des frühen 13. Jh. mit der

Wernerschen Dichtung ferner Schiller, IV,2, 1980, S. 44, Abb. 468-471,
488 a-f.
19 Für die Anordnung von 1878/79, die entgegen unseren Überlegungen
das Marien- und Passionsfenster vertauschte, gibt es keinerlei historische
Grundlagen, da die Felder nach Bickells Überlieferung zu Flickzwek-
ken durcheinandergeworfen und über die Fenster nord und süd II ver-
teilt worden waren. Geht man von einem zyklischen Aufbau der Chor-
verglasung aus, wobei das Achsenfenster das um die Voreltern
bereicherte Marienleben vom Christusleben trennt, macht die Verlage-
rung der Vita der Kirchenpatronin nach süd III wenig Sinn.
20 Zum Stadtsiegel vgl. Kat. Ausst. Der rheinische Städtebund von
1254/56, Worms 1986, S. 61. Die zu Füßen der Kaiserin knienden Stifter
sind nicht mehr zu identifizieren; ihre Anordnung dürfte das Vorbild für
die kompositorisch ungewöhnlichen Fensterstifter zu Füßen der Hll.
Augustinus und Nikolaus auf der um 1260 entstandenen Rechteck-
scheibe im Hessischen Landesmuseum Darmstadt abgegeben haben; vgl.
zuletzt Daniel Hess, in: Kat. Ausst. Köln 1998, Nr. 15. Zu den Wandge-
mälden siehe Wolfgang Medding, in: Jb. der Denkmalpflege im Regie-
rungsbezirk Kassel II, Kassel 1936, S. 28-42, Taf. 6-10.
 
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