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Hess, Daniel
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet: Hessen und Rheinhessen — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 3,2: Berlin: Dt. Verl. für Kunstwiss., 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.52864#0319

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314 WIESBADEN • MUSEUM
den Halbmedaillons angeordnet, geht man von einer dreiteiligen Fenstergliederung aus. Daß nur Szenen des Neuen
Testaments erhalten sind, schließt einen ursprünglich typologischen Zyklus keineswegs aus. Es sei lediglich auf den
etwa gleichzeitig entstandenen, 1181 datierten Verduner-Altar in Klosterneuburg verwiesen, der mit seinen siebzehn
typologischen Bildgruppen eine Vorstellung vom ursprünglichen Aufbau der Verglasung geben kann, auch wenn dort
Szenen der Öffentlichen Wirksamkeit fehlen9. Diese finden sich jedoch sowohl in ottonischen Christuszyklen, die für
die Mainzer Malerei bis 1250/60 vorbildlich geblieben sind (s. Kunstgeschichtliche Einleitung S. 37E), als auch in dem
etwa gleichzeitig entstandenen sog. Gebetbuch der Hildegard von Bingen; Anregungen dürften ferner auch von den
Versen zu einem umfassenden typologischen Wandmalereizyklus im Mainzer Dom unter Erzbischof Aribo
(1021-1031) ausgegangen sein10. Wie auch immer der Glasmalereizyklus im einzelnen aufgebaut war, die vier Schei-
ben sind die einzigen Reste der umfangreichen Verglasung eines herausragenden Baues mit großen Fenstern.
Komposition: Trotz der großen Lücken dürfte der Zyklus formal ursprünglich wie die Chorfenster von St. Patrokli
in Soest (Chorfenster I und süd II) aufgebaut gewesen sein11. Der Rahmen der Lazarusszene ist dabei um 90 Grad zu
drehen, so daß die Bordüre seitlich rechts und links hochsteigt, womit auch die beiden rahmenden Texte besser zu
lesen sind. Da neben den rechteckigen und quadratischen Szenen auch Rundbilder überliefert sind, dürften wie in dem
für Soest rekonstruierten Achsenfenster Rechteck und Kreismedaillon gewechselt haben. Wie die Medaillons dürften
auch die Rechteckscheiben ursprünglich identische Maße aufgewiesen haben. Die Palmettenbordüren stammen
sicherlich von der umlaufenden Rahmung des gesamten Fensters und schlossen ursprünglich wohl nicht unmittelbar
an die Szenen an. Da die seitlichen Inschriften nach innen beschnitten sind, faßten sie wohl halbkreisförmige Bildfel-
der ein, die in Ergänzung zur Mittelbahn Heiligenfiguren oder ergänzende alttestamentliche Szenen zeigten.
Farbigkeit, Technik: Während die Farbigkeit in den Figuren auf wenige hellgebrochene Töne beschränkt bleibt, bil-
det der blaue Hintergrund und das die Bildszene umlaufende, von den Figuren am Rand überdeckte rote Band einen
kräftigen Kontrast aus. Letzteres ist für viele Glasmalereien des 12. und frühen 13. Jahrhunderts charakteristisch, in
denen der blaue Grund und die rote Umrahmung farblich und formal eine vergleichbare Rolle spielen. Die zum Teil
aus Fragmenten zusammengesetzten Bordüren und Palmettenfriese vereinigen dagegen nahezu alle Farbtöne und wir-
ken dadurch sehr bunt. Die Modellierung der Figuren basiert auf opaken, partiell aufgekochten Kontur- und Binnen-
linien, die in den besseren Figuren die Plastizität der Körper überzeugend zum Ausdruck bringen und die Bewe-
gungen wirkungsvoll unterstreichen. Schwungvolle breite Pinselstriche in einem wäßrigen Halbton begleiten die
Binnenlinien und verdichten in der zweiten, qualitätvolleren Richtung die Zeichnung, indem sie sich zu selbständigen
Formen lösen. In den Gewändern der ersten Gruppe werden die Schattenlagen dagegen durch viele neben- und über-
einanderliegende, zum Licht hin ausfächernde Pinselstriche akzentuiert, die in ihrer Anlage die charakteristische
Modellierung der Frankfurter »Zackenstil-Scheiben« (s. Fig. 88, 90) vorwegzunehmen scheinen.
Stil, Datierung: Die Wiesbadener und Berliner Scheibenpaare zeigen jeweils zwei in Temperament und Handschrift
verschiedene Richtungen: Ein schwächerer, formelhafter Zeichner war für das Gastmahl und die Lazarusszene verant-
wortlich. Mit den langgezogenen Köpfen und übergroßen Mandelaugen wirken seine Figuren traditioneller, während
die Zeichnung in der formelhaften Wiederholung von Gewand- und Gesichtsschemata unbeholfen bleibt. Zupacken-
der und dramatischer schildert der zweite Meister mit seinen geschmeidigen Figuren, den kantigeren Köpfen, zuge-
spitzten Falten und der freien, den Körperrundungen folgenden Pinselzeichnung. Neben dem eleganten Kontrapost
bei Petrus belebt er die Szenen durch schreitende Bewegung oder abrupte Rückwendung. Trotz unterschiedlichen
Temperaments und abweichender Qualität stammen alle vier Glasgemälde aus demselben Zyklus und sind damit wohl

9 Zum Verduner-Altar vgl. zusammenfassend, mit guten Abbildungen
Helmut Buschhausen, Der Verduner Altar. Das Emailwerk des Niko-
laus von Verdun im Stift Klosterneuburg, Wien 1980.
10 Zu dem gegen 1190 in Trier(?) oder in Mainz(?) entstandenen Gebet-
buch der Hildegard von Bingen vgl. Elisabeth Klemm, in: Jb. der
Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 74, NF 38, 1978, bes. S. 29-34,

67, zu den Tituli für den Mainzer Dom hingegen Arens (s. Anm. 8),
1958, S. 8, Nr. 7, mit Nachweis der Quelleneditionen.
11 Vgl. Ulf-Dietrich Korn, Die romanische Farbverglasung von St.
Patrokli in Soest, Münster 1967, Abb. 87!.; zuletzt abgebildet bei Becks-
mann, 1995, Abb. 40.
 
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